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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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Beispiel als Adam das erste Mal alleine stand und ging, war ich dabei. Na ja, sie zuckt mit den Schultern, ich hab dir ja gesagt, wir waren in den ersten drei Jahren unzertrennlich. Und ich erinnere mich, wie er immer strahlte, wenn er eine neue Errungenschaft gemacht hatte, und Ofer, ja Ofer war da …
    Allein, vervollständigt Avram im Stillen ihren Satz, und seine Gesichtszüge werden plötzlich weich.
    Ora wiegt sich ein bisschen hin und her. Sie sieht Ofer auf dem Teppich im Wohnzimmer sitzen, allein, wie er beide Hände ausstreckt, sich an dem niedrigen runden Tisch festhält, sich aufrichtet und hinstellt. Er schaut sich um und sieht, dass niemand da ist. Aus der Küche dringen die Stimmen von ihr, Ilan und Adam zu ihm. Er hebt dieArme ein bisschen, lässt den Tisch los. Einen Moment steht er da, schwebt im Raum, hält sich gleich wieder fest. Doch schon wieder heben sich wie von allein die Ärmchen, suchen den Ort, an dem er vor einem Moment ganz allein geschwebt war.
    Alles, was er sieht, bewegt sich plötzlich von seinem Platz, bewegt sich in seinen Umrissen und droht zu fallen. Ein schwindelerregendes Ballett sich verändernder Winkel und Lichtbrechungen, neuer Formen und Schatten. Sogar die Stimmen sind plötzlich neu, sie kommen aus anderen Richtungen. Da überfällt ihn Weltangst, aber bei ihm ist die Angst vor der Welt auch eine Begierde auf die Welt, das spürt Ora und denkt sich, bis vor einiger Zeit war das auch bei mir so.
    Sie sitzt da, wiegt sich versunken hin und her, und Avram schaut sie an und hat das Gefühl, er schaue heimlich in ein persönliches, sehr kostbares Versteck. Er kann seinen Blick nicht von ihrem Gesicht wenden, das sich zu einem Licht hinwendet, das er nicht sieht.
    Sie steht auf, geht zu ihrem Rucksack, kramt fieberhaft, holt ein dickes Notizbuch in einem festen dunkelblauen Einband heraus. Aus der Seitentasche zieht sie einen Stift. Ohne Vorwarnung, noch im Stehen, den Kopf leicht schief gelegt, schreibt sie auf die erste Seite: Ofer hatte einen komischen Gang, das heißt, am Anfang lief er komisch. Fast vom ersten Moment an, als er zu laufen begann, machte er einen Bogen um alle möglichen Hindernisse, die außer ihm keiner sah. Es war urkomisch, ihn so laufen zu sehen, wie er sich vor etwas in Acht nimmt, was gar nicht existiert, oder vor einem Ungeheuer zurückweicht, das ihm anscheinend in der Mitte des Zimmers auflauert, dann ist es unmöglich, ihn dazu zu bringen, auf eine bestimmte Bodenkachel zu treten! Es ist ein bisschen, wie einem Betrunkenen beim Gehen zuzusehen. (Aber dieser Betrunkene hat System!) Ilan und ich sind beide der Meinung, dass er im Kopf eine innere Landkarte besitzt, nach der er sich bewegt.
    Sie kehrt mit vorsichtigen Schritten an ihren Platz zurück, legt das Notizbuch aufgeschlagen auf den Boden und setzt sich daneben, sehr aufrecht; dann schaut sie Avram verwundert an.
    Ich hab über ihn geschrieben.
    Über wen?
    Über ihn.
    Wozu?
    Keine Ahnung. Plötzlich musste ich einfach …
    Aber das Notizbuch …
    Was ist mit dem Notizbuch?
    Warum hast du das mitgenommen?
    Sie starrt auf die Zeilen, die sie geschrieben hat. Die Buchstaben sehen aus, als würden sie rennen, als winkten sie ihr, forderten sie auf, weiterzuschreiben, jetzt nicht abzubrechen.
    Was hast du gefragt?
    Wozu hast du das Notizbuch mitgenommen?
    Sie streckt sich. Plötzlich ist sie müde. Als hätte sie viele Seiten geschrieben. Ich dachte, ich würde einfach ein paar Sachen aufschreiben, die wir unterwegs sehen, Ofer und ich. Ein Ausflugstagebuch. Wenn wir mit den Jungs in den Ferien ins Ausland gefahren sind, haben wir immer Erlebnisse aufgeschrieben.
    Sie war es, die geschrieben hat. Abends, im Hotel, oder in den Pausen, oder auf den langen Fahrten. Die anderen wollten nicht mitmachen – Ora zögert und beschließt, ihm das nicht zu erzählen; er muss etwas über Ofer hören, nur über ihn, zu diesem Behufe sind wir hier angetreten, und sie hat nicht vor, jetzt große Gespräche über die gesamte Familie anzufangen – die drei hatten sich immer liebevoll über ihre besondere, ihrer Meinung nach kindische Anstrengung amüsiert. Und sie hatte darauf beharrt: Wenn wir nicht aufschreiben, vergessen wir. Sie haben gefragt, aber was gibt es zu erinnern? Dass dieser Opa auf dem Boot Papas Bein vollgereihert hat? Dass Adam statt des bestellten Schnitzels einen Aal bekam? Sie hatte geschwiegen und sich gedacht, ihr werdet schon sehen, irgendwann werdet ihr euch erinnern wollen, was wir

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