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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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lieber in Ruhe lassen soll. Was braucht er jetzt von ihr? Ihre Augen zieht es zu dem aufgeschlagenen Notizbuch. Vielleicht findet sie die Antwort dort? Sie möchte es zuklappen und kann nicht. Es liegt, ihrer Empfindung nach, so offen da, aber Zuklappen wäre Ersticken und hätte – so was Endgültiges. Sie stützt sich auf ein Knie, zieht die Ränder des Handtuchs glatt, beschwert es mit Steinen und nimmt dabei beiläufig das Notizbuch, liest, was sie geschrieben hat. Erstaunt stellt sie fest, dass sie auf wenigen Zeilen von der Vergangenheit in die Gegenwart gesprungen ist. »Ofer hatte einen komischen Gang«, »es ist ein bisschen, wie einem Betrunkenen beim Gehen zuzusehen«, »Ilan und ich sind beide der Meinung, dass …«
    Ilan hätte dazu bestimmt etwas anzumerken gehabt.
    Avram macht Feuer und lenkt es mit Hilfe einer Zeitung, die er gefunden hat, zu den Holzstücken. Ora starrt auf die Zeitung, fragt sich, von wann die wohl ist, und verscheucht ihren Blick von den Schlagzeilen. Wer weiß, wie weit die schon reingegangen sind, denkt sie, schließt schnell das Notizbuch und wartet, bis die Zeitung völlig verbrannt ist. Avram setzt sich ihr gegenüber auf den Boden. Sie essen schweigend. Das heißt, Avram isst. Er kocht Wasser auf für eine Heiße Tasse und trinkt gleich zwei davon, eine nach der andern, und erklärt, er sei süchtig nach Glutamat. Sie erkundigt sich beiläufig nach seinen Essgewohnheiten. Ob er für sich selber kocht? Ob jemand für ihn kocht?
    Manchmal, sagt er kurz. Sie bestaunt seinen Appetit, ist selbst nicht in der Lage, auch nur einen Krümel runterzukriegen. Im Grunde, denkt sie jetzt, hat sich ihr Magen, als sie losging, verschlossen. Auch auf dem Festmahl im Haus der lachenden Frau, der Mutter des Babys, hat sie kaum etwas runterbekommen. Dann kam bei dieser Reise vielleicht doch auch was Gutes für sie heraus.
    Plötzlich, in Blitzgeschwindigkeit, wie einer, der sich aus der eigenen Tasche beklaut, greift sie nach dem Notizbuch und schlägt es auf.
    Ich habe Angst, ihn zu vergessen. Seine Kindheit. Oft passiert es mir, dass ich die beiden verwechsle. Bevor sie zur Welt kamen, dachte ich, eine Mutter erinnert sich an jedes Kind gesondert. Aber das stimmt so nicht. Bei mir zumindest ist es anders. Und blöd, wie ich war, habe ich nicht für jeden ein Heft über seine Entwicklung angelegt, mit all seinen Weisheiten von klein auf. Als Adam zur Welt kam, hatte ich keinen Sinn dafür, in dem ganzen Chaos, weil Ilan uns verließ. Und als Ofer geboren wurde, hab ich es auch nicht geschafft (auch wegen des Chaos damals. Anscheinend herrscht immer, wenn ich niederkomme, irgendein Chaos). Ich dachte mir, vielleicht jetzt, bei dieser Wanderung, schreib ich ein paar Sachen auf, an die ich mich noch erinnere, einfach damit sie irgendwo aufgeschrieben sind.
    In ihrer Nähe fließt ein Fluss. Abendmücken summen. Die Grillen spielen verrückt. Ein Ast knackt im Feuer, Aschekrümel fallen auf das Notizbuch. Avram steht auf und trägt die Rucksäcke etwas weiter von der Feuerstelle weg. Sie wundert sich: Seine Bewegungen sind tatsächlich sicherer und leichter geworden.
    Kaffee, Ofra?
    Wie hast du mich genannt?
    Er lacht, sehr verlegen.
    Auch sie lacht, ihr Herz schlägt schnell.
    Und trotzdem, willst du einen Kaffee?
    Wartest du noch einen Moment? Nur eine Minute noch.
    Er zuckt mit den Schultern, isst zu Ende und rollt Ofers Schlafsack zu einem Kissen, streckt sich aus, verschränkt die Arme unter dem Nacken und schaut nach oben, in die Zweige über sich. Andeutungen eines dunklen Himmels. Er denkt an die Frau mit dem roten Faden, die das ganze Land durchquert, sieht den Zug der Exilanten. Lange Schlangen von Menschen mit gesenkten Köpfen kommen aus allen Orten, aus den Städten, aus den Kibbuzim, und schließen sich dem großen Zug an, der sich langsam entlang der Wirbelsäule des Landes bewegt. In der Strafzelle in Abassija hatte er geglaubt, es gäbe Israel schon nicht mehr, und er hatte dieses Bild in allen Details gesehen. Kinder auf den Schultern der Erwachsenen, schwere Koffer, leere, verloschene Augen. Doch die Frau, die mit dem roten Faden durchs Land zieht, hatte etwas Tröstliches. Man kann sich zum Beispiel vorstellen, denkt er und saugt an einem Schilfstengel, dass in jedem Ort, in jedem Dorf oder Kibbuz jemand heimlich seinen eigenen Faden an ihren Faden anknotet. So entstünde im Verborgenen über das ganze Land ein richtiges Gewebe.
    Ora beißt ins Ende des Kugelschreibers,

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