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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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mir Ofer auf den Bauch gelegt. Es störte mich, dass er in ein Tuch vom Krankenhaus gewickelt war. Ich wollte nackt mit ihm sein. Außer uns beiden waren mir alle, die sonst noch im Zimmer lagen, egal. Und Avram war nicht da.
    Sie wirft einen vorsichtigen Blick auf ihn. Sollte sie die letzten Worte lieber streichen? Vielleicht würde sie später mal wollen, dass Ofer liest, was sie hier schreibt? Vielleicht würden Ilan und sie ja trotzdem …
    Unruhe rumort in ihrem Unterbauch. Für wen schreibt sie? Wozu? Das sind schon fast zwei Seiten. Wie hat sie zwei Seiten vollgekriegt? Avram liegt auf dem Rücken hinter dem kleinen Feuer, das schon zu Glut geworden ist. Das Gesicht gen Himmel. Die Bartbüschel stehen wild durcheinander. Man muss ihm den Bart ein bisschen stutzen, denkt sie, vertieft sich für einen Moment in sein Gesicht: Mit zwanzig hatte er schon die ersten Haare verloren, von der Stirn nach hinten. Er war der Erste aus seiner Klassenstufe, aber bis dahin hatte er eine prächtige Mähne gehabt, stark und wild, und seine Koteletten hatte er dick bis auf die halbe Wange wachsen lassen. Sie machten ihn noch älter, als er sowieso schon aussah, und verliehen ihm, wie er ihr mal geschriebenhatte, das Gesicht eines begehrlichen, feuchtlippigen Dickensschen Herbergsbesitzers . Wie immer eine äußerst treffende Beschreibung, da konnte man nichts sagen: Immer hatte er sehr anschauliche, grausame und faszinierende Definitionen – vor allem, wenn es um ihn selbst, sein Äußeres und seinen Charakter ging, denkt sie. Mit deren Hilfe, das merkte sie interessanterweise erst jetzt, brachte er die anderen dazu, ihn durch seine Augen zu sehen, und schützte sich auf diese Art vielleicht vor zu selbständigen, wirklich schmerzhaften Blicken. Ora lächelt ihm mit amüsierter Hochachtung zu, wie jemand, der erst im Nachhinein entdeckt, dass ihm da ein besonders hintersinniger Streich ganz besonders gut gespielt worden ist.
    Und vielleicht auch vor zu liebenden Blicken, schreibt sie, ohne nachzudenken, in ihr Notizbuch und schaut verblüfft, was sich da wie automatisch geschrieben hat, und streicht es sofort mit einer dünnen Linie aus.
    Später, als alle Ärzte, Hebammen, Schwestern und der Doktor, der mich genäht hat, gegangen waren, hab ich Ofer ausgezogen und mir auf die Brust gelegt. Die letzten Worte lassen sie warm erschaudern. Woran erinnert sie dieses Beben? Woran erinnert es sie jetzt? »Auf die Brust«, flüstert sie in sich hinein, und ihr Körper erwidert sofort mit unglaublicher Süße: Avram. Er hatte die feinen Härchen auf ihrer Wange geleckt und ihr endlos » deine Schläfen, eine Scheibe vom Granatapfel « oder »mein zarter Flaum« ins Ohr gemurmelt, hatte sich an sie geschmiegt und ihr und sich selbst wie im Traum Dinge vorgeflüstert »das Wiegen deiner Hüften«, »der Samt deiner Kniekehlen«. Sie hatte vor sich hin gelächelt und gedacht, wie er sich mit Worten anheizte, doch lernte sie schnell, wenn sie ihre Scham überwandt und ihm diese Worte nachsprach, »zarter Flaum« oder »du bist in meinem Schoß«, wurde er in ihr sofort noch ein bisschen härter.
    Vom Moment seiner Geburt an waren Ofers Berührungen die tröstendsten, schlichtesten und direktesten Berührungen in meinem Leben. Ilan sagte einmal, Ofer habe von Anfang an ausgesehen wie einer, der seinen Ort schon gefunden hat. Ein Mensch, der ganz perfekt in sein Leben passt. Und das stimmte genau, zumindest als Kind. Später dann nicht mehr. Wir haben verschiedene Phasen mit ihm durchgemacht. Auch Schweres. Aber ehrlich gesagt, nichts wirklich Schlimmes. Keine besonders originellen Sorgen. Mit Adamwar es immer viel komplizierter, der war auch in den Problemen, die er machte, kreativer. Aber bei Ofer, da haben mich schon kleinste Problemchen deprimiert, keine Ahnung, warum.
    Gerade in der letzten Zeit, beim Militär, hatten wir es nicht leicht mit ihm. Vor allem ich nicht. Denn die drei sind eigentlich ganz gut darüber weggekommen.
    Vielleicht sollte ich nicht davon schreiben, aber als dann alles Mögliche mit ihm schieflief, bestand ein Teil meiner Not darin, dass ich von Anfang an das Gefühl hatte, mit ihm vor Problemen gefeit zu sein. Ich weiß, das war dumm, und ausgerechnet mit ihm war dieser Gedanke noch absurder, bei all den Komplikation mit Avram. Aber er strahlte von Anfang an so eine Gelassenheit aus, wirklich vom ersten Moment an, und so hatte ich immer die Illusion, oder so eine Art Glauben, für ihn könne ich die Zukunft mit

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