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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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Igel an ihr vorbei, vielleicht ein Paar. Der kleinere schnuppert an ihren nackten Füßen, und Ora bewegt sich nicht. Die Igel tapsen weiter und verschwinden am Abhang des Wadis. Ora flüstert, danke.
    Schau her, Avram, was Ofer angeht: Ich weiß nicht, ob ich ihm eine gute Mutter war, aber er ist ziemlich gut groß geworden, glaube ich. Er ist bestimmt das stabilere und stämmigere meiner beiden Kinder.
    Ich hatte so gar kein Selbstvertrauen, als sie klein waren. Ich hab überall und dauernd Fehler gemacht. Was hab ich denn gewusst?
    Vorhin, als ich gesagt habe, ich wäre vielleicht nicht die tollste Mutter gewesen, hast du aufgeschrien. Weil ich den Mut hatte, dir etwas kaputt zu machen – aber was? Die Illusion der idyllischen Familie? Der perfekten Mutter? Ist es das, was du über uns gedacht hast?
    In den wichtigsten Dingen bist du ein solcher Analphabet.
    Ich weiß noch nicht einmal, wo ich anfangen soll, dir etwas beizubringen. In diesen Dingen bist du wie ein Wolfskind, wie ein Wolfsmensch.
    Sie hebt den Kopf. Avram liegt eingerollt da und schläft ruhig. Vielleicht lächelt er im Schlaf. Offensichtlich sieht er überhaupt nicht wölfisch aus.
    Weißt du, was, vielleicht hast du ja recht. Denn eigentlich waren wir keine so schlechte Familie. Die meiste Zeit waren wir sogar, verzeih den Ausdruck, ziemlich glücklich zusammen. Aber tief drinnen stimmt es schon.
    Natürlich hatten wir auch Probleme, die normalen Sorgen, die üblichen, unvermeidbaren Unglücksmomente. (Wie hast du mir mal geschrieben, als du beim Militär warst: »Jede glückliche Familie ist auf ihre Art unglücklich.« Woher wusstest du das!) Und trotzdem kann ich sagen, dass Ofer und ich es seit seiner Geburt bis zu der Sache in der Armee vor ungefähr einem Jahr in Hebron sehr gut zusammen gehabt haben.
    Und auf eine Art, gar nicht typisch für uns, haben Ilan und ich das schon damals gewusst. Nicht erst rückblickend.
    Ich würd dir so gern von uns erzählen. Von uns allen. Eine Kurzfassung der Geschichte unserer Familie.
    Wir hatten zwanzig gute Jahre; das ist in unserem Land schon fast eine Frechheit, oder? »Etwas, wofür man die alten Griechen bestraft hat« (ich weiß nicht mehr, in welchem Zusammenhang du das gesagt hast).
    Und wir, wir hatten zwanzig Jahre, das ist wahnsinnig viel. Vergiss nicht, von den zwanzig Jahren waren die beiden Jungen sechs Jahre am Stück im Militär (mit einer Pause von fünf Tagen zwischen Adams Entlassung und Ofers Einberufung), und sie haben beide in den besetzten Gebieten gedient, an den beschissensten Orten. Und irgendwie ist es uns gelungen, da durchzukommen, ohne dass es uns einmal wirklich erwischt hätte, kein Krieg, kein Anschlag, keine Rakete, Granate, Kugel oder Bombe, kein Sprengsatz, Scharfschütze, Selbstmordattentäter, keine Metallkugeln, Steine aus der Steinschleuder, Messer, Fingernägel.
    Einfach ein ruhiges, privates Leben.
    Verstehst du das? Ein kleines, unheroisches Leben. Sich so weit wie möglich nicht mit der verfluchten Lage beschäftigen, denn wie du weißt, unseren Teil haben wir schon bezahlt.
    Manchmal, alle paar Wochen …
    Etwa einmal die Woche bin ich von einem Angstanfall aufgewacht und hab Ilan ins Ohr geflüstert: Schau uns an, sind wir nicht eine Art kleine Untergrundzelle mitten in »der Lage«?
    Und das waren wir wirklich.
    Zwanzig Jahre lang.
    Zwanzig gute Jahre lang.
    Bis es uns erwischt hat.

Das war kurz bevor er vier wurde, zwei oder drei Monate vorher, sagt sie. Ich war gerade dabei, Mittagessen zu kochen. Damals lernte ich im letzten Jahr Physiotherapie, und Ilan hatte schon seine eigene Kanzlei, es war eine völlig verrückte Zeit, aber immerhin hörten die Vorlesungen an zwei Tagen der Woche früher auf, und so konnte ich Ofer direkt vom Kindergarten abholen und ihm etwas kochen – sag, interessiert dich das wirklich …
    Avram lacht in sich hinein, und seine Lider röten sich. Auf diese Art …
    Was? Sag schon.
    Spähe ich heimlich in euer Leben.
    Ja? Dann späh nicht heimlich, sondern schau richtig hin. Alles steht dir offen.
    Auf dem Gipfel von Keren Naftali, auf einem Teppich von Zyklamen und Anemonen, liegen sie verschwitzt und atemlos von dem steilen Aufstieg. Das war bisher das Schwerste, da sind sie sich einig, und sie stürzen sich auf die Waffeln und Kekse. Bald müssen sie einkaufen, erinnern sie einander. Avram steht auf und zeigt ihr, wie viel er in diesen Tagen abgenommen hat, und freut sich ungläubig, dass er das erste Mal eine Nacht

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