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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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einer Impfung. Wogegen haben sie ihn damals geimpft? War das die kombinierte Dreifachimpfung? Wer weiß das noch? Ich weiß nur, dass die Schwester an seinem Po keine Stelle mit genug Fleisch gefunden hat und dass Ilan lachend gesagt hat, Ofer brauche wohl eher eine Anti-Dreier-Impfung. Er wachte also mitten in der Nacht auf, glühte, redete mit sich selbst und sang mit hoher Stimme. Ilan und ich standen da, zwei Uhr nachts, todmüde, und fingen an zu lachen. Denn plötzlich haben wir ihn nicht richtig erkannt. Er war wie betrunken, und wir standen bei ihm und haben hysterisch gelacht, haben uns aber auch nicht wohl gefühlt, dass uns seine Krankheit und diesesSingen und die ganze Situation so zum Lachen brachten und dass wir im Grunde auf seine Kosten lachten.
    Es war, als hätten wir ihn aus einer gewissen Entfernung gesehen und beide (gemeinsam, nehme ich an) gespürt, wie sehr er uns noch fremd war, wie jedes Kind, das von irgendwo dort aus dem Unbekannten kommt.
    Aber er war wirklich ein bisschen fremd. Er war von Avram. Er schwebte in größerer Fremdheitsgefahr als jedes andere Baby.
    Sie hält inne, versucht zu lesen, was sie geschrieben hat, kann ihre Schrift nicht entziffern.
    Wie erleichtert war ich, als Ilan ihn auf den Arm nahm, ihn umarmte und sagte, das ist nicht nett, dass wir über dich lachen, denn du bist krank, armes Kerlchen, und dazu noch ein bisschen beschwipst. Und ich war ihm so dankbar, dass er das gesagt hatte, »das ist nicht nett, dass wir über dich lachen« – und nicht «über ihn«. Auf einen Schlag hatte er diese Fremdheit weggewischt, die sich fast zwischen uns gedrängt hätte. Das hat Ilan hingekriegt, nicht ich.
    Du musst wissen, dachte sie und schaute zum schlafenden Avram hinüber, dass du da keinen Zweifel hegst: Er war ein wundervoller Vater, für beide Jungs. Ich glaube wirklich, sein Vatersein ist das Beste an ihm.
    Dann blättert sie um und schreibt über die Breite der ganzen Seite so fest, dass der Kuli fast das Papier aufreißt:
    Ein toller Vater? Aber kein toller Partner?
    Sie starrt auf die Worte. Schlägt noch eine Seite um.
    Ofer beruhigte sich nicht, im Gegenteil, er sang immer lauter, jodelte richtig, und wir bekamen noch einen Lachanfall, aber da war zwischen uns schon etwas anderes, wir erlaubten uns, ein bisschen Spannung abzubauen, vielleicht das erste Mal seit der Schwangerschaft, und vielleicht auch, weil uns beiden plötzlich klar war, Ilan bleibt; jetzt können wir endlich unser Leben beginnen und eine ganz normale Familie sein.
    Sie atmet auf, entspannt sich.
    Du schläfst. Du schnarchst.
    Was würdest du machen, wenn ich mich neben dich legen würde?
    Schon fast eine Woche bin ich nicht mehr zu Hause.
    Wie konnte ich so etwas tun? Ausgerechnet in so einer Zeit fliehen? Ich bin doch nicht normal.
    Vielleicht hat Adam recht. Unnatürlich.
    Nein. Weißt du, was? Ich fühl mich überhaupt nicht so.
    Hör zu: Mit den Kindern sind in mir so viele Gefühle und Feinheiten erwacht, ich weiß nicht, wie viel davon ich damals, in Echtzeit, verstanden habe. Falls ich damals überhaupt einen Moment innehalten und nachdenken konnte. Diese Jahre erscheinen mir jetzt wie ein riesiger Sturm.
    In jener Nacht, mit dem Fieber und dem Jodeln, haben wir Ofer ein kaltes Bad gemacht, um das Fieber zu senken. Ilan hatte nicht den Mut, ihm das anzutun. Ich hab ihn in die Wanne gelegt, eine teuflische, aber wirkungsvolle Methode, man muss nur die Angst davor überwinden, dass ihm im ersten Moment der Atem wegbleibt. Ich war mir sicher, er würde vor meinen Augen blau werden. Seine Lippen haben gezittert und er hat geschrien, und ich hab auf ihn eingeredet, das sei aber gut für ihn. Meine Finger lagen um seine winzige Brust, und sein Herz flatterte so schnell, dass es fast keine Pausen zwischen den Schlägen gab, er zitterte von dem Schock und sicher auch, weil ich sein Vertrauen missbraucht hatte.
    Ein anderes Mal sah Adam das und schrie, ich würde Ofer quälen: »Geh du doch selber in das kalte Wasser, Mama!« »Weißt du was, du hast ja recht!« Und ich bin wirklich mit ihm in die Wanne gestiegen, und in dem Moment wurde die ganze Sache zu einem wilden Spiel mit viel Gelächter. Adam, der klügste unter den Kindern.
    Aj, sie nimmt den Kopf zwischen die Hände. In ihr ächzt das Rad, das sich nicht zurückdrehen lässt.
    Sie sitzt da, schaukelt sich selbst. Im Gebüsch hört sie ein gleichmäßiges beharrliches Rascheln, und ein paar Sekunden später laufen hintereinander zwei

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