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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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willst.
    Sie stehen auf und bereiten sich für die Nacht vor. Bedecken die Glut mit Erde und Steinen. Avram wäscht das Geschirr im Fluss. Ora sammelt die Reste ein und packt sie in den Rucksack. Ihre Bewegungen sind verzögert, nachdenklich. Sie meint, einen vergessenen Ton in seiner Stimme gehört zu haben, doch als sie sich seine letzten Sätze noch einmal im Kopf vorspielt, nimmt sie an, dass sie sich irrt. Der Abend ist warm, sie brauchen kein Zelt. Sie breiten die Schlafsäcke auf beiden Seiten der Feuerstelle aus. Ora ist so müde, dass sie sofort einschläft.Avram bleibt noch lange wach. Er liegt auf der Seite, schaut auf das Notizbuch, auf dem Oras Hand ruht. Ihre schöne Hand, denkt er, ihre Hand mit den langen Fingern.

    Kurz nach Mitternacht wacht sie auf. Die Angst um Ofer ist in ihr aufgesprungen wie eine böswillige Puppe auf einer Sprungfeder. Eine sturmläutende Angst schüttelt ihren Körper, leuchtet mit einem wahnsinnigen Blick auf und krächzt: Ofer wird sterben! Ofer ist schon tot! Wie von einer inneren Schlange gebissen, setzt sie sich auf und schaut mit aufgerissenen Augen zu Avram, der schnarchend auf der anderen Seite der Feuerstelle liegt.
    Wie kann es sein, dass er nicht spürt, was passiert?
    Genauso, wie er nichts gespürt hat, als Ofer zur Welt kam.
    Auf ihn kann sie sich nicht verlassen. Sie steht dem allen ganz allein gegenüber.
    Wieder spürt sie die Trauer über das Paar, das sie einmal waren, die Trauer, dass sie hier so völlig einsam liegen, am Ende der Welt, aber was hatte sie sich denn gedacht, als sie ihn hierher mitschleppte, was für ein Unsinn war das gewesen? Sie wusste doch, dass solche dramatischen Gesten nichts für sie waren. Dem Avram von früher hätten die gepasst, aber nicht ihr, sie markiert bloß, tut bloß so, als wäre sie wild und mutig. Du, meine Liebe, setz dich schön zu Hause hin, sei ein braves Dummchen und warte auf die Nachricht von deinem Sohn und gewöhn dich schon mal daran, ohne ihn zu leben.
    Mit einem Sprung ist sie aus dem Schlafsack, packt das Notizbuch und schreibt im Dunkeln Ofer , Ofer , Ofer , eine Zeile nach der anderen, dutzende Male, in großen, krummen Buchstaben, murmelt seinen Namen, schickt ihn genau zu Avram, obwohl er schläft, genau das muss sie jetzt tun – ihr wirkungsvollstes Mittel gegen das Gift, das vielleicht genau in diesem Moment auf ihn abgeschossen wird. Ofer , Ofer , schreibt sie, flüstert immer wieder, genau so musst du es machen, das ist das Gegengift, immer wieder neu fühlen, wie der Puls seines Namens zwischen ihr und Avram hin und her geht, und sie spricht weiter seinen Namen, mal flüsternd, mal lauter, und auf verschiedene Melodien. Ofer? Ofer … Ofer! Ofer, komm nach Hause! Ofer, wenn du nicht sofort diesen Haufen hier wegräumst! …
    Sie schließt die Augen und stellt sich jeden einzelnen seiner Gesichtszüge vor. Sie hüllt ihn in Decken von Licht, wickelt ihn in Wärme und Liebe und pflanzt ihn immer wieder in das schlafende Bewusstsein auf der anderen Seite des verloschenen Feuers. Danach schreibt sie, im Dunkeln tastend, ohne zu sehen:
    Da fällt mir ein, wie er als Baby seine Füße entdeckt hat. Mit welchem Genuss er sie gekaut und an ihnen gesaugt hat. Wenn ich mir nur vorstelle, was er da gefühlt haben muss – dass er etwas kaut, was in der Welt existiert, was er mit eigenen Augen sieht und was gleichzeitig in ihm Empfindungen weckt, die von innen, direkt aus ihm heraus kommen. (Ich muss das verstehen. Das bewegt mich sehr.)
    Vielleicht begann er auch, als er an seinen Zehen saugte, ein Zipfelchen von dem zu begreifen, was »ich«, was »meins« ist?
    Dieses Gefühl, in dem Kreis zwischen seinem Mund und seinen Füßen zu schwimmen, den er selbst geschlossen hatte!
    Ich-meins-ich-meins-ich-meins-ich
    Das ist ein so großartiger Augenblick, und bis jetzt habe ich noch nie darüber nachgedacht. Wie ist das möglich? Wo bin ich gewesen? Ich versuche, mir vorzustellen, in welchem Teil seines Körpers er in diesem Moment am meisten »ich« gefühlt hat, und ich glaube, an seinem Mittelpunkt, an seinem Pimmelchen.
    Auch ich spüre das jetzt, beim Schreiben, nur dass es bei mir plötzlich furchtbar weh tut, wenn ich schreibe.
    So vieles, was ich mal war, bin ich nicht mehr.
    Wenn ich doch mehr darüber schreiben könnte. Ein ganzes Buch müsste man über diesen Augenblick schreiben, als Ofer an seinen Zehen saugte.
    Und einmal, etwa mit einem halben Jahr, da hatte er Fieber, vielleicht war es nach

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