Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
Vom Netzwerk:
Moment hatte, aber er ließ nicht locker und fragte, von wem man dieses Fleisch genommen habe. Du musst wissen, er hat Fleisch damals sehr gemocht, Rindfleisch, auch Huhn. Außer Fleisch hat er kaum was gegessen, am liebsten Fleischklopse, Schnitzel und Hamburger. Ein echter Fleischfresser war er, was Ilan sehr gefreut hat, und mich auch, aus irgendeinem Grund.
    Was?
    Dass er gern Fleisch isst. Ich weiß nicht, so eine primäre Befriedigung. Das kannst du doch verstehen, oder?
    Aber ich bin jetzt Vegetarier.
    Ach deshalb, rief sie, ich hab gestern im Moschaw gemerkt, dass du das nicht anrührst …
    Drei Jahre schon.
    Und warum?
    Einfach so. Ich wollte mich reinigen. Doch sein Blick ruht mit Bedacht auf seinen Fingerkuppen. Du erinnerst dich, es gab schon mal eine Zeit, in der ich kein Fleisch gegessen habe.
    Als er aus der Gefangenschaft zurückkehrte, natürlich wusste sie das noch, bekam er Krämpfe und übergab sich jedes Mal, wenn er an einem Steak-Restaurant oder Schawarma-Stand vorbeikam. Schon eine Fliege, die in einem elektrischen Insektenfänger verkohlte, löste bei ihm Brechreiz aus. Da erinnerte sie sich plötzlich, wie sich ihr selbst Jahre später der Magen umgedreht hatte, als Adam und Ofer ihr bei einem Schabbatessen mit weißer Tischdecke, geflochtenem Schabbatbrot und traditioneller Hühnersuppe im Spaß erklärten, was sich ihrer Meinung nach hinter der Abkürzung TVL versteckte, dem Panzer, bei dem Adam als Fahrer und nach ihm auch Ofer als Richtschütze und dann als Kommandant dienten. Sie hatten losgeprustet, nein, nicht »Treu VaterLand« , wo hast du denn das her, Mama, sondern » transportiert verkohlte Leichen« .
    Aber ein paar Jahre später, erzählt Avram weiter, fünf, sechs Jahre später, ist mein Appetit zurückgekommen, dann hab ich alles gegessen, und eigentlich ess ich ja, wie du weißt, gern Fleisch.
    Sie lächelt: Ich weiß.
    Und vor drei Jahren ungefähr hab ich nochmal aufgehört.
    Jetzt begreift sie: Genau vor drei Jahren?
    Und ein paar Tagen, ja.
    So eine Art Gelübde?
    Er schaut sie verschmitzt von der Seite an. Sagen wir, ein Geschäft. Und einen Augenblick später – ihr Hals war schon gerötet – fügte er hinzu, darfst denn nur du solche Sachen machen?
    Solche Geschäfte mit dem Schicksal, meinst du?
    Schweigen. Sie malt mit dem kleinen Finger kurze Linien, legt ein Dreieck darauf, ein Dach. Drei Jahre Abstinenz von Fleisch, denkt sie, und jeden Abend hat er einen Strich an der Wand durchgestrichen;was bedeutet das? Was sagt er mir damit? Sie beschließt, ihm diese Szene mit Ofer in der Küche zu Ende zu erzählen und dann sofort aufzuschreiben, so etwas darf nicht vergessen werden, auch weil in ihr seitdem das Gefühl nagt, dass bei diesem Mittagessen der Anfang für einen anderen Ofer gelegt worden ist, und der war heimlicher und komplizierter.
    Ofer dachte noch ein bisschen weiter und fragte, ob die Kuh, von der man das Fleisch nehme, das Fleisch dann wieder nachwachsen lasse.
    Nachwachsen lassen, wiederholte Avram lächelnd.
    Und ich habe mich gewunden und gesagt, nicht wirklich, nicht genau so, und Ofer fing wieder an, in der Küche auf und ab zu laufen, immer schneller. Ich sah, dass bei ihm etwas losging. Dann blieb er vor mir stehen und fragte, kriegt die Kuh eine Wunde davon, wenn man ihr das Fleisch wegnimmt? Ich hatte keine andere Wahl und sagte, ja.
    Avram hört zu, plötzlich ganz und gar gefesselt von dieser Szene, wie Ora in der Küche steht und mit dem Jungen redet, der Junge ist klein und mickrig, ernst und besorgt, er läuft in der schmalen Küche hin und her, reibt sein Ohr und schaut seine Mutter hilflos an. Avram hebt, ohne es zu merken, ein bisschen die Hand vors Gesicht, Bröckchen von Familienintimitäten werden in unerträglicher Menge auf ihn abgeschossen. Die Küche, der offene Kühlschrank, ein für zwei Leute gedeckter Tisch, die Dämpfe aus den Töpfen auf dem Herd, die Mutter, das Kind, seine Not.
    Dann fragte er, ob man das Fleisch wenigstens von einer toten Kuh nimmt, der es nicht mehr weh tut. Er hat versucht, da irgendwie anständig rauszukommen, verstehst du, dass ich da sauber rauskam, und irgendwie auch die gesamte Menschheit. Und ich spürte, ich musste auf der Stelle eine Halbwahrheit für ihn erfinden: Später, wenn er etwas robuster und noch ein paar Zentimeter gewachsen wäre und genug tierisches Eiweiß zu sich genommen hätte, dann könnte ich ihm offenbaren, was du einmal »die Tatsachen des Lebens und des Todes« genannt

Weitere Kostenlose Bücher