Eine Frau flieht vor einer Nachricht
nimmt ihr den Becher aus der Hand und schüttet den Kaffee weg, er gießt ihr noch einen ein, aus dem kochenden Topf. Sie trinkt. Das tut gut, jetzt ist er sehr gut. Ihre Augen schauen über den Becherrand, überfliegen die Zeilen, die sie geschrieben hat.
Ich hab ihm alles erzählt, was wichtig für ihn war und was er einmal imLeben, der Reihe nach, von Anfang bis Ende, gehört haben sollte. So hatten wir vielleicht eine halbe Stunde zusammen. In dieser Zeit hat er kaum einen Mucks getan. Er lag auf mir und lauschte mit offenen Augen. Manchmal hat er den Kopf ein bisschen gedreht und mich angeschaut, und manchmal ist er ein bisschen eingeschlafen. Auch als er geschlafen hat, hab ich zu ihm geredet. Ich hab ihm erzählt, wie ich Ilan und Avram kennengelernt habe, dass ich von Anfang an die Freundin von beiden gewesen bin, Ilans Freundin und die gute Freundin von Avram (obwohl sich diese Unterscheidung manchmal, häufig sogar, verwischte). Nachdem ich mit der Armee fertig war, blieben sie noch beim Militär, das letzte Jahr Militär und noch ein Jahr beim stehenden Heer, ich wohnte schon in Jerusalem, in Nachlaot, in der Tiberias Straße, und studierte im ersten Jahr Sozialpädagogik, ich habe mein Studium geliebt – und überhaupt mein Leben.
Ich hab ihm auch von der Verlosung erzählt, zu der sie mich aufgefordert, mich gezwungen hatten, und was danach im Krieg passiert ist, wie Avram von dort zurückgekommen ist, von seinen Behandlungen und Krankenhausaufenthalten, und seinen Verhören, weil die vom Sicherheitsdienst aus irgendeinem Grund davon überzeugt waren, er hätte den Ägyptern die größten Staatsgeheimnisse verraten. Ausgerechnet ihn haben sie verdächtigt, und vielleicht hatten sie ja auch wirklich einen Grund, bei Avram kannst du nie wissen, seine Spiele mit parallelen Dimensionen und seine verwickelten Handlungen, und vor allem, weil er es so sehr brauchte, dass man ihn liebte. Alle mussten sehen, dass er besonders war und überhaupt der Größte – bei ihm kannst du wirklich nicht wissen.
Ich erzählte ihm, wie wir Avram gepflegt haben, nur wir zwei haben uns um ihn gekümmert, Avrams Mutter war ja noch während des Militärdienstes gestorben; außer uns hatte er niemanden auf der Welt. Ich hab ihm auch erzählt, wie Ilan und ich, als Avram noch in Tel Haschomer war, Adam gemacht haben, fast zufällig, ohne nachzudenken, ich schwöre dir, keine Ahnung, warum wir zusammenkamen und das passiert ist, zwei verschreckte Kinder waren wird damals, und direkt nach Adams Geburt hat Ilan mich verlassen, er hat gesagt, das sei wegen Avram, aber ich glaube, er hat auch Angst gehabt, mit mir und mit Adam zusammenzuleben, er hatte einfach Angst davor, was wir ihm alles geben könnten, mit Avram hatte das gar nichts zu tun.
Dann hab ich ihm von seinem Bruder Adam erzählt, damit er auch den ein bisschen kennenlernt, denn für Adam braucht man schon eine Gebrauchsanweisung.Zum Schluss hab ich ihm noch erzählt (ohne Einzelheiten), dass ich ihn etwa zweieinhalb Jahre nach Adam zusammen mit Avram gemacht habe, und ich habe ihm sogar das Wort »Kann-nicht-Fick« gesagt, so wie Avram es mir dabei ins Ohr geflüstert hatte, damit er von Anfang an auch ein Wort in seiner Vatersprache kannte.
Sie streckt sich. Wer hätte gedacht, dass Schreiben so gut tut! Es ist ermüdender und anstrengender als laufen, aber wenn sie schreibt, muss sie nicht die ganze Zeit weiter. Sie versteht nicht recht, was ihr da passiert und warum, aber so empfindet sie es, und so weiß es ihr Körper: Solange sie schreibt, solange sie über Ofer schreibt, müssen Avram und sie nicht fliehen. Vor nichts.
Als ich fertig erzählt hatte, hab ich ihm mit der Fingerspitze unter der Nase in die Kuhle der Oberlippe getippt, damit er alles, was er gehört hat, wieder vergisst und noch einmal neu und unbefangen anfangen kann, und da hat er geweint, das erste Mal seit der Geburt.
Sie lässt das Notizbuch fallen, das sich zwischen ihren Beinen wie ein kleines Zelt öffnet. Ora hat das Gefühl, dass die Wörter aus den Zeilen fliehen und sich in die Risse der Erde und in den Felsen verkriechen werden. Schnell dreht sie das Notizbuch zu sich um. Sie glaubt nicht, dass sie das alles geschrieben hat. Fast vier Seiten! Ilan hat immer gesagt, sogar einen Einkaufszettel für den Lebensmittelladen würde sie ein paarmal ins Unreine schreiben.
Avram?
Hmmm.
Komm, lass uns schlafen gehen.
Jetzt schon? Ist das nicht zu früh?
Ich bin fix und fertig.
Wie du
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