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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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sich nicht von uns trösten und auch nicht anfassen. Mit unseren Fleischhänden, verstehst du. Seitdem hat er zwölf Jahre lang kein Fleisch angerührt und nichts, was neben einem Stück Fleisch gelegen hat. Bis sechzehn ungefähr, bis er in die Pubertät kam und anfing zu wachsen, hat dieser Junge kein Fleisch angerührt.
    Und warum dann mit sechzehn?
    Warte, gleich – bis dahin ist es noch ein langer Weg, denkt sie, langsam, ganz langsam werden wir es zusammen verstehen. Am Anfang weigerte er sich bei Tisch, mit mir zu reden, wenn ich mit der Gabel, die das Huhn berührt hatte, aus Versehen in seine Richtung zeigte, verstehst du, wie weit er … Ofer gehörte wirklich, wie Ilan damals so schön sagte, zum schiitischen Flügel der vegetarischen Bewegung.
    Das muss sie aufschreiben, diese dauernden Kämpfe, die Ilan mit ihm ausfocht, die unglaubliche Hartnäckigkeit und Entschlossenheit, die Ofer damals an den Tag legte. Eine leichte, irritierende Angst überfiel sie und Ilan, dass ein vierjähriges Kind so feste Grundsätze hatte, denn beide spürten, seine Kraft zog er aus einer verborgenen Quelle jenseits seines Alters und jenseits seiner Eltern. Wo ist das Notizbuch? Sie steht auf. Der undeutliche innere Druck meldet sich wieder und bricht mit einem Mal aus: Wo ist das Notizbuch, Avram? Hast du gesehen, wohin ich das Notizbuch gelegt hab?
    Sie stürzt sich auf ihren Rucksack und wühlt, und das Notizbuch ist nicht da. Es ist nicht da! Sie schaut erschreckt zu dem anderen Rucksack, zu dem von Avram, und Avram spannt sich an. Vorsichtig fragt sie ihn: Ist es vielleicht bei dir?
    Nein, ich hab es da nicht reingetan. Ich hab ihn überhaupt nicht aufgemacht.
    Stört es dich, wenn ich nachschau?
    Er zuckt gleichgültig mit den Schultern, als sage er, der gehört mir nicht, der geht mich auch nichts an. Dann steht er auf und entfernt sich ein paar Schritte von dem Rucksack.
    Sie macht eine Schnalle auf, löst Knoten, wirft von oben einen Blick hinein. Alles ist fast noch so, wie sie und Ofer es gepackt hatten.Es war Avram auf wundersame Art gelungen, in all den Tagen, die er den Rucksack auf dem Rücken trug, nichts zu bewegen und zu verschieben.
    Jetzt steht der Rucksack wie mit offenem Mund zwischen ihnen. Zuoberst, auf einem Stapel Kleider, liegt das rote T-Shirt von Milan , so wie sie es eingepackt hatte, und sofort ist ihr klar, das Notizbuch ist nicht da. Doch sie kann ihn nicht wieder zuschnüren.
    Hier sind so viele Sachen zum Wechseln, sagt sie, gibt mit trockener Stimme eine nützliche Information weiter, Socken, Hemden, Waschzeug.
    Ich stinke wohl?
    Sagen wir mal, ich weiß jeden Moment, wo du gerade bist.
    Ah. Er hebt den Arm und schnuppert. Keine Sorge, Ora, wir finden schon eine Quelle oder einen Wasserhahn, das ist kein Problem. Seine Stimme, gestresst und verlogen, krümmt sich wie bei einem Kind auf einer Freizeit, das dem Gruppenleiter gegenüber Ausreden erfindet, warum es leider nicht zusammen mit den anderen Kindern duschen kann.
    Gut, wie du meinst, sagt Ora.
    Schweigen. Sie atmet heftig. Ihre Finger schweben über Ofers Rucksack und entwickeln plötzlich ein Eigenleben.
    Außerdem passen mir seine Sachen nicht.
    Ein Teil vielleicht schon, und die Hosen bestimmt. Er ist ziemlich breit gebaut. Übrigens sind das nicht nur seine Klamotten, sie prüft von oben nach unten, immer noch nur mit den Augen, ohne etwas zu berühren: Er hat auch Hemden von Adam und von Ilan eingepackt. Und seine Pumphose aus dem Sinai, die passt dir garantiert. Und im Stillen fügt sie hinzu, sie wird dich schon nicht anstecken, mit Ofer.
    Aber warum Kleidung von Adam und Ilan?
    Das wollte er so. Von ihnen umhüllt wandern gehn.
    Sie beherrscht sich und erzählt nicht, dass ihre drei Männer auch die Unterhosen gemeinsam benutzen.
    Endlich schiebt sie eine Hand in den Rucksack, erst zögernd, fürchtet, die von Ofer geschaffene Ordnung durcheinanderzubringen, schleicht sich aber im Nu in die Tiefe, findet ihren Weg zwischen denKleidern, und schon sind beide Hände drin, graben, kramen in den von der Sonne gut gewärmten Kleidern, die schon eine Woche lang gebacken wurden, treffen unterwegs auf ein Knäuel Socken, schieben sich mit der Schnelligkeit eines Taschendiebs in Hosentaschen, hier ist auch das Handtuch, die Taschenlampe, und das sind die Sandalen, Unterhosen, T-Shirts, ihre Finger wühlen blind in den Tiefen, plündern, was sie nur können. Ein merkwürdiges Gefühl breitet sich in ihr aus: Das sind seine Kleider,

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