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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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sie. Weißt du, was das bedeutet, so ein Kind, in dieser beschissenen Welt?
    Avram zuckt zurück. Plötzlich spürt er, tief in seinem Innern meldet sich die Angst, die ihn überfallen hatte, als Ora ihm sagte, sie sei schwanger.
    Sie trinkt Wasser, wäscht sich das Gesicht. Sie reicht ihm die Flasche, und er – ohne nachzudenken – kippt sie sich über den Kopf.
    Mit einem Schlag ging Ofers Gesicht zu, verschloss sich – sie macht es ihm vor, ballt mit aller Gewalt die Fäuste –, und dann rannte er den ganzen Flur entlang, vom Badezimmer bis zur Küche, und er hat mich getreten, stell dir das vor, so was hatte er bis dahin noch nie getan, mit aller Kraft hat er mich getreten. Ihr seid wie Wölfe! Menschen wie Wölfe! Ich will nicht mehr bei euch sein.
    Was?
    Er hat geschrien, wie ein Rasender …
    So hat er gesagt? »Wie Wölfe«?
    Und das bei einem Kind, das ein Jahr vorher noch so gut wie nicht gesprochen hat, denkt sie, keine drei Worte hat er zusammengekriegt.
    Aber woher hatte er das, fragt Avram atemlos, woher wusste er …
    Er raste zur Tür, wollte abhauen, aber sie war abgeschlossen, und er trommelte mit Händen und Füßen dagegen, er ist richtig Amok gelaufen, und weißt du, sagt sie, ich hab immer das Gefühl, da ist etwas in ihm passiert, was nicht mehr gutzumachen war, etwas fürs ganze Leben, eine erste Wunde, weißt du, ein erster tiefer Schmerz.
    Nein, das versteh ich nicht, erklär es mir, murmelt Avram, vergräbt die plötzlich schwitzenden Hände in seinen Schoß.
    Erklär es ihm, denkt sie, wie kannst du ihm das erklären. Vielleicht erzählst du ihm von sich selbst, von Avram. Zum Beispiel von ihm und seinem Vater, der einfach aufstand und ging, als er fünf war, und seitdem nicht mehr gesehen ward. Sein Vater, der einmal das Gesicht des kleinen Avram mit Gewalt zwischen den Händen gehalten und es zu Avrams Mutter gedreht hatte und sie mit einem breiten, freundlichen Lächeln fragte, ob ihm das Kind ihrer Meinung nach auch nur im Geringsten ähnlich sei, ob es wirklich sein könne, dass so eine Kreatur von einem Mann wie ihm gezeugt wurde, und ob sie sicher sei, dass sie ihn geboren habe; vielleicht habe sie ihn ja geschissen.
    Ich werde das Gefühl nicht los, sagt sie leise, dass er dort, in der Küche, etwas über uns erfahren hat.
    Über wen?
    Über uns. Über die Menschen, sagt sie, dass es das in uns gibt.
    Ja.
    Dieses Raubtier in uns.
    Avrams Blick haftet an der Erde, am Staub. Ihr seid wie Wölfe, wiederholt er, bewegt die Worte in seinem Kopf, ich will nicht mehr bei euch sein. Bis in die Tiefen seiner Seele erschüttern ihn diese Worte. Beinahe dreißig Jahre lang hat er sie gesucht, und nun hallen sie ihm aus dem Mund seines Sohnes entgegen.
    Ora fragt sich, auch das zum ersten Mal, was sich da in der Küche wirklich ereignet hat. In welchem Ton hat sie Ofer die Tatsachen des Lebens und des Todes nahegebracht? War es wirklich genau so, wie sie es Avram gerade beschrieben hat, also ohne Ofer richtig anzulügen, vielmehr ein Versuch, ihm die Sache mit dem Schlachten, so gut es eben ging, etwas leichter zu machen, ihm wirklich diesen Schrecken zu ersparen? Aus irgendeinem Grund erinnert sie sich, wie ihre Mutter ihr, als sie ein Kind war, gerade mal sechs Jahre alt, in allen Details, ein bisschen provozierend und merkwürdig vorwurfsvoll, von den Greueltaten der Gefangenen in den Konzentrationslagern, in denen sie im Krieg gewesen war, berichtet hatte.
    Ich weiß nicht recht, sagt sie, als ich ihm diese Tatsachen nahebrachte, ob sie wirklich wichtig für seine Erziehung waren, um ihn aufs Leben vorzubereiten, und ob da nicht von einem gewissen Punkt an auch ein bisschen, wie soll ich sagen, Grausamkeit dabei war.
    Aber warum? fragt Avram schockiert, wie kommst du denn jetzt auf Grausamkeit?
    Vielleicht sogar ein bisschen Schadenfreude.
    Ich versteh nicht, Ora, was du …
    Ich meine, vielleicht habe ich ihm damit irgendwie so ganz nebenbei angedeutet, dass eben diese Dinge auch irgendwie seine Strafe dafür sind, dass er sich überhaupt meiner beschissenen Gesellschaft und ihren Spielen angeschlossen hat, verstehst du, dem Spiel der menschlichen Spezies.
    Ach so, das meinst du, sagt Avram.
    Sie schweigen.
    Avram nickt, seine Lider sind schwer.
    Und als ich versuchte, ihn zu umarmen, sagt sie, hat er getobt und mich so gekratzt, dass ich geblutet habe. In der Nacht, im Schlaf, hat er weitergeweint, so sehr hat das in ihm gebrannt. Am nächsten Morgen hatte er hohes Fieber. Er ließ

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