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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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Busen als etwas Weiblichem zu reden, alles andere sei absolut undenkbar, meinte er, und sie übernahm das gern und sagte: meine Busen. Wie sehr er sie bewunderte, nie genug von ihnen bekam; deine Liebreize nannte er sie, und auch deine Rubensbusen, was ihr immer wieder zeigte, dass er Ora wirklich nicht sah, wie sie war, dass er völlig blind für ihre Mängel war, dass er sie anscheinend liebte. Und sie, sie liebte ihn so sehr dafür, dass er ihre Brüstchen zu Busen machte, dass er ihren kleinen Brüstchen einen Platz in der Welt gab, noch bevor irgendwer deren Existenz überhaupt bemerkt hatte. Dass er mit solcher Begeisterung glaubte, dass sie eine Frau sei, während sie selbst daran noch zweifelte. In den Jahren danach, als sie die Jungs stillte, hatte sie oft gedacht, wenn doch nur auch Avram ihre Busen so groß und üppig und voller Milch erleben könnte – die überquellende Ora, er war jedes Mal vor Lust vergangen, wenn er dies in einem anderen Kontext ihrer Weiblichkeit sagte.
    Sie trocknet sich kräftig ab, wie sie es immer gern tut, reibt die Haut, bis sie rosa ist und dampft, und spielt mit ihren umherirrenden Gedanken. Merkwürdig glühend starrt sie ihn an, und Avram öffnet seitlich ein mürrisches Elefantenauge zu ihr und fragt: Ist was? Sie fasst sich wieder, richtet sich gerade auf und blinzelt schnell, als wolle sie schleunigst den aufmüpfigen, feuchten Blick loswerden, der ihr entwischt ist.
    Als Avram sein Hemd anziehen will, verkündet Ora, warte, das waschen wir auch gleich und lassen es dann auf dem Rucksack trocknen. Sei so gut, mach jetzt deinen Rucksack auf und such dir was Sauberes zum Anziehen.

    Sie gehen an einer ganzen Reihe von Quellen entlang, Ejn Gargar, Ejn Pua, Ejn Chalav. Flechten umhüllen mit orangenem Flaum die Zweige der Mandelbäume am Wegrand. Kaulquappen stieben auseinander, wenn der Schatten von Avrams Kopf aufs Wasser fällt. Ora redet. Manchmal wirft sie ihm einen Blick zu und sieht: Seine Lippen bewegen sich ihren Worten nach, als wolle er sie ganz und gar in sich aufnehmen. Sie erzählt von den langen Nächten, die sie mit Ofer auf demArm im Schaukelstuhl verbrachte, wenn er krank war, schwitzte, glühte, manchmal auch zitterte und jammerte. Zusammen mit ihm hatte sie gewacht oder geschlafen, ihm sanft zugeredet und den Schweiß von seinem Gesicht gewischt. Ich habe nicht gewusst, dass man den Schmerz eines anderen so stark empfinden kann, sagt sie und linst zu ihm hinüber, denn wer, wenn nicht Avram, konnte früher mit dem Schmerz eines anderen volllaufen.
    Sie erzählt ihm vom Stillen. Wie Ofer über Monate allein von ihrer Milch gelebt hat, wie er sich murmelnd und mit Blicken mit ihr unterhielt. Eine ganze Sprache war das, so reich, sagt sie, dass man sie mit Worten nicht beschreiben kann.
    Doch sie möchte, dass er nicht nur Ofer dort sieht, sondern auch sie: mit dem fleckigen Still-BH und dem wirren Haar. Mit dem Bauch, der über Monate einfach nicht zurückgehen wollte, mit der Hilflosigkeit, an der sie schier verzweifelte, angesichts der unerklärlichen Schmerzen des weinenden und schreienden Kindes. Mit den stichelnden Ratschlägen von ihrer Mutter, den viel erfahreneren Nachbarinnen und Kinderkrankenschwestern. Und mit dem Glücksgefühl, allein mit ihrem Körper ein lebendes Wesen zu erhalten.
    Und dann dieser Moment – ein Abgrund – zwischen Ofers hungrigem Schreien und dem Augenblick, wo er ihre Brustwarze einsaugte. Wenn er schrie, hatte sie gesehen, brach sein Körper auf einmal zusammen, wie einer, der weiß, dass er gleich verhungert. Todesangst floss in ihn hinein, sie hatte es gespürt. Todesangst füllte alle Räume in ihm, wo keine Nahrung war. Er schrie, beweinte sich selbst, bis die rhythmischen Ströme kamen und ihn langsam wieder auffüllten; dann lag ein Licht der Erleichterung auf seinem kleinen Gesicht, er war gerettet, sie hatte ihn gerettet, es lag in ihrer Kraft.
    Sie, die noch immer beim Umschalten vom vierten in den dritten Gang umkam vor Angst, versehentlich den Rückwärtsgang einzulegen, sie erhielt einen Menschen am Leben.
    Manchmal, wenn er in ihren Armen lag, strich sie flüchtig mit der Hand um sein Gesicht und seinen Körper und meinte jedes Mal, die feinen, durchsichtigen Weben zu spüren, die ihn mit Avram irgendwo dort verbanden. Sie wusste, das war Unsinn, aber sie konnte diese Handbewegung nicht unterlassen.
    Es war Nacht, nur sie und er existierten auf der Welt; rundherum war es dunkel; warme Milch floß im

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