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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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sich selbst oder sie und natürlich sie und Ilan gemalt hatte, zusammen mit den drei, fünf oder sieben Kindern, die sie in Zukunft haben würden. Er schnitt für sie urige und unanständige Stellen aus Zeitungsartikeln, schickte ihr Inschriften, die er auf den Jerusalemer Friedhöfen gefunden hatte (»der von Qualen -Gepeinigte«, schrieb er fröhlich, »als hätten sie das für mich geschrieben!«). Auch schickte er ihr eine genaue Strickanleitung für eine Zwergenmütze aus dicker Wolle mit roter Bommel und seine eigenen Rezepte für Hamantaschen, für Aufläufe und Kuchen, die sie niemals zu backen wagte, denn es reichte ihr schon, das Rezept zu lesen, um zu spüren, dass darin zu viele entgegengesetzte Geschmäcker miteinander kämpften.
    Avram stöhnte im Schlaf, seine Lippen bewegten sich. Ora hielt den Atem an. Er murmelte etwas Unverständliches, schmerzverzerrt. Sie befeuchtete seine Lippen mit einem Tuch und wischte ihm den Schweiß vom Gesicht. Er beruhigte sich.
    Am Morgen nach ihrer letzten gemeinsamen Nacht auf der Isolierstation hatte er angefangen, ihr zu schreiben: »Ich fühle mich, als hätte man uns operativ voneinander getrennt«, schrieb er, »als wäre ich nur noch Beulen und Striemen und frische Wunden , seit du mir ausgerissen wurdest.« Damals war eine weitere Welle von Verwundeten ins Krankenhaus gekommen, und man hatte Ilan, Avram und sie auf andere Krankenhäuser verteilt. Er schrieb ihr jeden Tag, über drei Wochen, noch bevor er ihre Adresse herausbekommen hatte, und dann schickte er ihr die ersten einundzwanzig Briefe in einem bunt beklebten Schuhkarton. Seitdem hatte er ihr sechs Jahre lang Briefe von fünf, zehn und auch zwanzig Seiten geschickt, mit Limericks, Gedichten, ausgewählten Zitaten und Szenen aus Hörspielen; er schickte ihr auch Telegramme, die er lieber »Telepfunde« nannte, und Entwürfe für Geschichten, die er mal schreiben würde, mit girlandenartigen Randbemerkungen und Streichungen, bei denen absichtlich das Gestrichene noch lesbar war. Sein ganzes Herz hatte er ihr gegeben, und sie hatteseine Briefe immer mit neugieriger Lust und einer gewissen Spannung, mit blankliegenden Nerven und einer beinahe physischen Sehnsucht nach Ada gelesen, und mit dem unverständlichen Schuldgefühl, Ada zu betrügen. Doch hatte sie in den ersten Monaten ihrer Korrespondenz jeden seiner Briefe auch mit einem verächtlich-spöttischen Zug in den Mundwinkeln geöffnet – ein Zug, der manchmal während des Lesens zu einem Zucken wie vor dem Weinen wurde.
    In jeden Brief flocht er etwas über Ilan ein. Um sie neugierig zu machen oder um sich selbst zu quälen, das konnte sie nicht entscheiden.
    »Heute, liebe Ora«, las sie ihm flüsternd vor und beugte sich ein bisschen über sein bis zum Knochen zerschnittenes Gesicht, »überfiel mich eine abgründige Traurigkeit, und ich laufe herum wie die Katze, die für sich blieb, von Rudyard Kipling (kennst du?), und der Einzige, dem ich meine Geheimnisse anvertraue, ist Ilan, mein guter alter entmannter Freund. Wie du weißt, pflegen wir uns in Angelegenheiten des weiblichen Geschlechts zu beraten. Das heißt, ich rede, meistens natürlich von dir. Und Ilan reagiert nicht, aber gerade wegen seines Schweigens denke ich, dass er in Bezug auf dich nicht ganz gleichgültig ist, obwohl ich sehe, er hat dir gegenüber noch nicht das gemacht, was ich im gemeinsamen Ratschluss mit meinem Freund Søren Kierkegaard »den Sprung in die Liebe« nenne, obwohl er andererseits stur darauf beharrt, gegenüber den ihn umgebenden Herden blonder und dunkelhaariger Mädchen indifferent zu bleiben. Meist gebe ich ihm Ratschläge, weil er in Sachen Frauen so unerfahren und unbeholfen ist, und verhalte mich dabei natürlich völlig neutral, wie einer, der schon ganz abseits steht und in dieser Sache, also in Bezug auf dich, keinerlei eigene Interessen verfolgt. Du wirst nicht glauben, wie leidenschaftlich ich versuche, ihn davon zu überzeugen, dass du für ihn bestimmt bist. Sicher wirst du fragen, warum ich das tue? Weil meine Aufrichtigkeit mich dazu verpflichtet und weil mir klar ist, dass, obwohl du für mich bestimmt bist, ich nicht für dich bestimmt bin. Das ist die bittere Wahrheit, Ora. Und das ist das Gesetz meiner Liebe zu dir: Nur Herzensnot und Komplikationen werde ich dir bringen, und gerade weil du mir so wichtig bist, und wegen meiner absoluten und uneigennützigen Liebe zu dir, muss ich Ilan für dich begeistern, musszumindest seine blinden Augen

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