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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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Dafür ist er noch zu jung, ein Kind in seinem Alter muss noch nicht alle Possessivformen kennen. Und Ilanantwortete, aber du siehst doch, dass es ihm Spaß macht. Natürlich, sagte sie, er merkt ja, dass es dir gefällt, und er will dir gefallen. Er wird alles tun, um dir zu gefallen – hör mal, Ora öffnet mitten im Satz eine Klammer: Da fällt mir noch was ein. Etwa ein halbes Jahr nachdem Ilan zurückgekommen war, fragte Adam, wo denn der Mann, der im Schuppen gewohnt hatte, hingegangen sei. Und was habt ihr ihm geantwortet? fragt Avram nach längerem Schweigen. Ich habe kein Wort rausgekriegt, und Ilan sagte nur, der ist gegangen und kommt nie mehr zurück. Das ist mir jetzt plötzlich eingefallen. Aber wo war ich stehengeblieben?
    Sie war geschwächt gewesen. Die Schwangerschaft mit Ofer, die so leicht und mit einem Gefühl der Gesundheit begonnen hatte, wurde gegen Ende anstrengend, und sie litt oft. Sie fühlte sich abwechselnd wie ein Elefant oder gerupft und hässlich. Vom sechsten Monat an, erzählt sie, drückte Ofer mir auf einen Nerv, und ich hatte bei jedem Aufstehen höllische Schmerzen. In den letzten beiden Monaten verbrachte sie die meiste Zeit in einer bestimmten Stellung im Bett oder in dem großen Sessel im Wohnzimmer – auch das Atmen tat ihr manchmal weh –, und sie betrachtete Ilan und Adam in ihrem intellektuellen Fieber, während sie selbst immer schwächer wurde, sich zunehmend in die ihr bekannte Nische gedrückt fühlte, in die sie sich vor Jahren in einer Mischung aus Stumpfheit und Selbstaufgabe verkrochen hatte, als Avram und Ilan damit anfingen, sich vor ihren Augen leidenschaftliche Wortgefechte zu liefern.
    Sie konnte Ilan und Adam nicht daran hindern, sich mit Synonymen, Reimen und Assoziationsspielen zu amüsieren, und natürlich fühlte sie sich auch geschmeichelt, als die Kindergärtnerin ihr von dem gewaltigen Schritt in Adams Entwicklung berichtete, in so kurzer Zeit habe er einen Sprung von mindestens zwei Jahren gemacht. Er habe im Kindergarten nun eine viel stärkere Position, obgleich er aus irgendeinem Grund auch wieder einnässe, aber jetzt sei er zumindest in der Lage, von diesen Unfällen zu berichten, so dass man ihn kaum schelten könne. »Mir ist was weggelaufen«, sagte er dann, zitiert Ora mit schiefem Mund und fragt gereizt: Was lächelst du so?
    Ich glaube, sagt Avram und schaut sie nicht an, ich hätte das wohl auch so gemacht.
    Mit deinem Kind?
    Vielleicht. Ja.
    Wie Ilan?
    Ja.
    Das hab ich mir auch manchmal gedacht, sagt sie und schwört sich, diesen Punkt nicht weiter zu vertiefen, nie im Leben.
    Was denn?
    Schon gut, nicht so wichtig.
    Was hast du gedacht? Sag schon.
    Da bricht es aus ihr heraus: Das ist es im Grunde doch, was Ilan gesucht hat, einen Partner wie dich, mit dem er glänzen und brillieren kann.
    Avram schweigt, dreht eine Locke seines Bartes um den Finger.
    Denn als Ersatz war ich nicht gut genug, sagt sie trocken. Zumindest nicht in dieser Hinsicht. Es ist mir nicht gelungen, und ich habe es erst gar nicht versucht.
    Aber warum hättest du es überhaupt versuchen sollen?
    Ilan hat das gebraucht. Weißt du überhaupt, wie sehr er dich und das, was ihr gemeinsam hattet, gebraucht hat? Er hat sich ohne dich so welk gefühlt.
    Avrams Gesicht lodert, und plötzlich nagt in Ora ein Zweifel: Vielleicht hat sie damals überhaupt nicht verstanden, was Ilan durchmachte. Vielleicht suchte er gar keinen Ersatz für Avram, sondern versuchte, selbst wie Avram zu sein. In ihrer Erregung läuft sie schneller. Vielleicht gab er sich damals alle Mühe, so Vater zu sein, wie er sich Avram als Vater vorstellte?
    Sie sind so sehr in sich versunken, dass die Straße, an die sie gelangen, ihnen Angst macht. Die Wegzeichen sind plötzlich verschwunden. Ora geht weiter, kehrt um, sucht, wird enttäuscht. Bisher hatten wir Glück damit, denkt sie, aber jetzt? Wie kommen wir jetzt nach Jerusalem?
    Die Straße ist nicht besonders breit, doch die vielen Autos rasen in irrsinnigem Tempo. Am Straßenrand fühlen sich beide langsam und dumpf; gern würden sie umkehren, sich dahin zurückziehen, woher sie kamen, auf eine lichte stille Wiese oder ins schattige Dickicht des Waldes. Aber Umkehren ist unmöglich, das geht für Ora nicht, und Avramhat sich anscheinend schon an ihrem Vorwärts-und-weiter-Drang angesteckt. Verstört stehen sie am Straßenrand, schauen nach links und rechts und zucken bei jedem vorüberfahrenden Auto zurück.
    Wie diese Japaner, die dreißig

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