Eine Frau flieht vor einer Nachricht
»sind wir um halb sechs aufgestanden und zu einem Hügel gefahren, wo wir Steine aufgelesen, Unkraut gejätet und Terrassen gebaut haben (stell dir mich da vor, ohne Unterhemd!) Ich habe einen Plan ausgeheckt, und es gelang mir, als einziger Junge mit acht deiner Geschlechtsgenossinnen zu arbeiten, doch zeigte sich schnell, dass sie alle kalte Hintern hatten und Avram gegenüber feindselig eingestellt waren. Neben mir arbeitete Ruchama Levitov (von der hab ich dir schon geschrieben; wir hatten mal eine flüchtige und betrübliche Begegnung), so dass ich Gelegenheit hatte, unsere Beziehung nun genauer zu klären, aber zum Schluss haben wir doch nur Kleinquatsch geredet (ich habe gerade versucht, das englische small talk zu übersetzen), und sie provozierte mich und sagte, wir würden immer diskutieren und streiten und uns trennen und wieder von neuem anfangen, wie ein doppeltes Diagramm. Ich hab ihr einen Jean-Paul-Belmondo-Blick zugeworfen und nichts gesagt, aber danach dachte ich, das ist mein Schicksal mit Mädchen, irgendwie klappt es nie richtig, und auch wenn es hier und da mit einer mal klappt, kommt immer der Moment, wo sie plötzlich vor mir zurückweicht oder gleich abhaut, oder sie sagt, sie finde mich übertrieben. (Hab ich dir von Tova G. erzählt, die mir, als wir endlich in die Horizontale gelangt waren, erklärte, ich sei ihr »zu intim« ??!! und richtiggehend aus dem Bett floh?!) Um die Wahrheit zu sagen, Ora, ich habe keine Ahnung, was bei mir nicht stimmt mit den Mädchen. Ich würde gern mal mit dir darüber reden, ganz ehrlich und ohne Zensur.
Dein Caligula mit schwieligen Löffelchen, zum Abendessen eilend.«
Ora kramte in dem vollen Schuhkarton, zog einen anderen Brief aus derselben Zeit heraus, warf einen Blick auf Avram, der eingegipst in Verbänden dalag, und las ihn vor.
»Meine schejne Schejndel. Wieder eine Chemiestunde. Man wollteuns begeistern für endotherme und exotherme Reaktionen. Ich hatte einen sagenhaften Streit mit der Lehrerin. Phantastisch! Sie versuchte sich rauszureden, da gab ich ihr den entscheidenden Stoß. Zum Schluss kroch sie geschlagen aus der grölenden Klasse, und ich feierte mit Macht und Pracht meinen Triumphzug durchs Klassenzimmer!«
Ora warf ihm einen Blick zu. Keine Reaktion. Zwei Tage vorher hatten die Ärzte begonnen, ihn nach und nach aus dem künstlichen Tiefschlaf zurückzuholen. Doch auch wenn er halbwach war, öffnete er die Augen nicht und sprach nicht. Jetzt schnarchte er mit aufgerissenem Mund. Der Kopf und die Schulter, die man sah, waren übersät mit offenen und vereiterten Wunden. Sein linker Arm war eingegipst, die Beine auch, das rechte in einer Extension aufgehängt, und aus allen Körperteilen kamen Schläuche. Seit ein paar Nächten las sie ihm Briefe aus ihrer Jugend vor. Ilan glaubte nicht an solche Behandlungsmethoden, doch sie hoffte, dass gerade seine eigenen Worte zu ihm durchdringen und ihn zum Reden reizen würden.
Vielleicht hatte es auch gar keinen Sinn. Sie blätterte in den Briefen und Zetteln. Ab und zu fischte sie einen heraus, las eine Stelle vor, doch meistens wurde ihre Stimme nach ein paar Zeilen leiser, bald las sie nur noch für sich, lachte und staunte, wie er ihr mit sechzehneinhalb ohne jede Hemmung und mit saftiger Ausführlichkeit seine Begegnungen mit Mädchen beschrieben hatte … »Keine Sorge, die sind nur ein schwacher Abklatsch von dir, und auch nur so lange, bis du dich dazu durchringst, das über mich verhängte Lustembargo aufzuheben und dich mir ganz und gar hinzugeben, inklusive der heiligen Stätten.« Er schrieb von erfolglosen Werbeversuchen und Pannen, vor allem von peinlichen Pannen schrieb er ihr, Ora kannte niemanden, der so fröhlich von seinem Scheitern und seiner Nichtigkeit berichtete.
Hunderte von Papieren und Zettelchen lagen in diesem Karton, eng beschrieben in seiner sprunghaften Handschrift, die manchmal von der Spannung, die sich auch in Worten nicht entladen konnte, zitterte; übersät mit Kritzeleien, anmutigen Zeichnungen, Pfeilen, Sternchen und Fußnoten. Erfindungen und Wortspiele sprudelten nur so aus ihm hervor, auch kleine Wortfallen, um zu prüfen, ob sie aufmerksam las und alle Einzelheiten mitbekam. Auf den Rückseiten derBriefe las sie als Absender: Chilik & Billig GmbH, Zubehör für Träume und Inkubus, oder: Ch. Bovary, pharmakologischer Berater für gehörnte Männer.
Auf jeden Briefumschlag klebte er neben die offizielle Briefmarke seine eigene Marke, auf die er
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