Eine Frau flieht vor einer Nachricht
und sein Herz öffnen. Ist das nicht völlig gestört?
Los, schreib mir schnell, damit mein Herz nicht vor Sehnsucht vergeht!«
Doch schon im P.S. zu diesem Brief erzählte er ihr fröhlich von verwickelten Affären und seinem Pech mit anderen Mädchen, die nur ein billiger und zufälliger Ersatz waren, und das nur, weil sie in den verborgenen Tiefen ihres Herzens darauf bestehe, ausgerechnet den trübseligen Ilan mit seiner kafkaesken Lebensfreude zu lieben, der sich überhaupt nicht für sie interessiert, und weil sie sich weigert, Avram vor dem Gesetz zu heiraten und mit ihm zusammen in irgendeinen kleinen Schuppen zu ziehen.
In den ersten Wochen hatte sie ihm kurze, vorsichtige Briefe zurückgeschrieben, deren Ängstlichkeit ihr peinlich war. Er hatte sich nicht beklagt. Nie hatte er sich über die Zahl der Seiten oder deren dünnen Inhalt beschwert, im Gegenteil: Immer war er begeistert und dankbar für jeden Buchstaben, den sie ihm schrieb. Danach wagte sie sich ein bisschen weiter vor, erzählte ihm zum Beispiel von ihrem großen Bruder, dem Revoluzzer und Marxisten, der ihren Eltern das Leben schwermache und nur tue, wozu er gerade Lust habe, weshalb sie wütend auf ihn sei und ihn gleichzeitig beneide. Sie schrieb ihm, wie einsam sie unter ihren Freundinnen sei, von ihren Ängsten vor den Wettkämpfen – deshalb hatte sie die Leichtathletik schon fast ganz aufgegeben und sich aufs Schwimmen verlegt; der Wechsel vom trockenen ins feuchte Element hat ihr sofort gut getan; es gab Tage, an denen sie sich wie eine Fackel fühlte, die sich im Wasser etwas abkühlt. Und von Ada schrieb sie ihm, sehnte sich schriftlich nach ihr, wie sie es nur bei ihm konnte. Ab und zu – im Grunde in jedem Brief – beherrschte sie sich nicht und bat ihn im P.S., Ilan einen herzlichen Gruß auszurichten. Obwohl sie wusste, dass sie ihm damit weh tat, hatte sie nicht die Kraft, es nicht zu tun. Und auch im nächsten Brief konnte sie sich wieder nicht beherrschen und erkundigte sich, ob er den Gruß auch ausgerichtet habe.
Von diesem Briefwechsel, von ihrer neuen Freundschaft und auch von der wahnsinnigen Herzensnot, die ihr die Gedanken an Ilan bereiteten, erzählte sie keiner ihrer Freundinnen. Seit der Rückkehr ausdem Krankenhaus in Jerusalem wusste Ora, dass alles, was sie in jenen Nächten erlebt hatte, zu kostbar und zu außerordentlich war, um es Fremden anzuvertrauen. Umso mehr das, was sie jetzt mit den beiden erlebte. In der Doppelung lag ein Geheimnis, das sie gar nicht zu lüften versuchte. Es hatte sie ganz plötzlich getroffen, wie ein Blitz oder ein Unfall, und sie musste nun mit den Folgen dieses Treffers zurechtkommen. Doch mit jedem Tag wuchs in ihr die unerschütterliche Gewissheit, die immer selbstverständlicher wurde: Sie brauchte sie alle beide, sie waren lebenswichtig für sie wie zwei Engel, die letztlich dieselbe Mission hatten: Avram, vor dem sie keine Zuflucht fand, und Ilan, der ganz und gar Abwesende.
Fast unbemerkt wurden ihre Briefe an Avram zu einer Art Tagebuch, das sie ihm zur Aufbewahrung anvertraute. Doch da sie ihm von ihrer tagtäglichen und allnächtlichen Sehnsucht und dem körperlichen Verlangen nach Ilan nicht schreiben konnte, die plötzlich in ihr aufflammten, schrieb sie über andere Dinge, immer mehr über ihre Eltern, vor allem über ihre Mutter, ganze Seiten schrieb sie über ihre Mutter, sie hatte nicht geahnt, dass es so viel über sie zu schreiben gab. Am Anfang, wenn sie das Geschriebene las, kam es ihr wie ein Verrat vor, und sie war entsetzt, und dennoch konnte sie ihm das nicht vorenthalten; sie hatte sowieso den Eindruck, dass er alles über sie wusste, auch das, was sie gern vor ihm verborgen hätte. Sie erzählte ihm von der ständigen Anstrengung, die Gründe für die Wutausbrüche ihrer Mutter zu erahnen, von den verborgenen Anschuldigungen, die im ganzen Haus wie dichte Gitter aufgestellt waren, vor denen es kein Entrinnen gab, und verriet ihm das große Familiengeheimnis von den Anfällen ihrer Mutter. Die schloss sich alle paar Tage in ihr Zimmer ein und schlug sich selbst schmerzhaft, das hatte Ora zufällig entdeckt, als sie zehn gewesen war und sich, wie so oft, im Bettzeugfach im Kleiderschrank ihrer Eltern versteckt hatte. Sie hatte gesehen, wie ihre Mutter ins Zimmer gerannt kam, die Tür hinter sich abschloss und anfing, sich zu schlagen, sich ohne einen Laut Bauch und Brust aufzukratzen, und dann schrie sie im Flüsterton: du Dreckstück, du Dreckstück,
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