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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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Jahre nach Kriegsende aus den Wäldern kommen, murmelt sie.
    Ich bin wirklich so einer, erinnert er sie.
    Sie sieht, die Straße und die von ihr ausgehende Gewalt machen ihm Angst. Sein Gesicht verschließt sich, sein Körper macht zu. Sie sucht die Hündin. Bis eben ist sie ihnen doch noch nachgelaufen, auf Distanz. Jetzt ist sie weg. Was tun? Zurückgehn und nach ihr suchen? Und wie willst du sie über die Straße kriegen? Wie willst du sie und Avram zusammen über die Straße bringen?
    Jetzt fehlen mir bloß noch ein Kohlkopf und eine Ziege, schimpft sie im Stillen.
    Komm, sagt sie und gibt sich einen Ruck. Sie weiß, wenn sie nicht sofort etwas unternimmt, wird seine Schlaffheit ihn lähmen: Komm, wir gehen rüber.
    Sie nimmt seine Hand, spürt, wie er vor der Straße kapituliert.
    Wenn ich »jetzt« sage, rennst du los.
    Er nickt kraftlos, den Blick auf den Schuhspitzen.
    Du kannst doch rennen, oder?
    Plötzlich verändert sich sein Gesicht: Sag mal, warte noch einen Moment …
    Später. Später.
    Nein, warte. Was du vorhin gesagt hast …
    Pass auf, nach dem Laster: Jetzt!
    Sie läuft los, auf die Straße, ein, zwei Schritte, und sein massives spezifisches Gewicht hält sie zurück. Sie schaut schnell nach rechts und links. Noch ist die Straße leer, doch Avram trottet unvorstellbar langsam hinter ihr her. Sie dreht sich um, zieht ihn mit beiden Händen. Ein metallic-violetter Jeep rast aus der Kurve auf sie zu, blendet die Scheinwerfer auf. Sie stehen mitten auf der Straße, stecken fest, können nicht vor und nicht zurück. Und Avram versteinert. Sie ruft seinen Namen, zieht ihn an den Armen. Sie hat den Eindruck, als spreche er zu ihr, als bewegten sich seine Lippen. Der Jeep schießt wütend hupend an ihnen vorbei, und Ora betet, dass niemand aus der Gegenrichtungkommt. Sag mal, murmelt er immer wieder, sag mal. Was denn, stöhnt sie in sein Ohr, was ist denn jetzt so wichtig? Ich, ich, stottert er, ich wollte dich fragen … Was wolltest du fragen? Ein Lastwagen rollt auf sie zu, immer näher, tutet wie ein altes Nebelhorn, sie stehen genau auf seiner Spur, Ora zieht Avram an sich, rettet ihn vor dem Laster, erstarrt mit ihm auf dem weißen Mittelstreifen. Hier werden sie sterben, wie zwei Schakale überfahren werden. Und er: Hat er auch sonst keinen? Auch sonst keinen … was? Wovon redest du? Hat Ilan auch sonst keinen Ersatz gefunden?
    Im Dröhnen einer vorbeifahrenden Hupe hört sie ein feines, kaum fassbares Flüstern, wie das Rascheln eines Kindes hinter einem Schrank beim Versteckspiel. Sie starrt ihn an – der große runde, in der Sonne weichgekochte Kopf, das wilde Haar auf beiden Seiten, seine aufgerissenen Augen, deren Blick sich wieder, jetzt wie ein Löffel in einem Glas, bricht. Da begreift sie endlich, was er sie fragt.
    Mit beiden Händen streichelt sie langsam sein Gesicht, seinen wilden Bart, seine verzweifelten Augen. Ihre Bewegung bringt die Straße zum Verschwinden. Die Straße kann warten. Völlig ruhig sagt sie, was, das wusstest du nicht? Hast du dir das nicht gedacht? Nach dir hatte Ilan keinen Freund mehr wie dich.
    Ich auch nicht, sagt er mit hängendem Kopf.
    Ich auch nicht, und jetzt komm. Gib mir die Hand. Wir gehen.

    »Ich bin in der Hölle!« hatte er ihr in einem Brief aus einem Vorbereitungslager aufs Militär geschrieben, siebzehn war er damals gewesen, »im Camp Ora-Quelle, das garantiert nach Dir benannt ist. Dir würde es hier gefallen, wir fressen Kies, spülen ihn mit Kettenfett runter und hüpfen wie abgeknallte Hühner aufs Sprungtuch. Alles Sachen, die du doch gerne machst, oder? Und ich? Ich begnüge mich damit, von dir zu phantasieren, und versuche erfolglos, die Stellvertreterinnen für dich in meinem Herzen zu ficken. Gestern Abend habe ich zum Beispiel Atara zu mir aufs Zimmer eingeladen. Ich empfinde ihr gegenüber, wie du weißt, keine Liebe. Was dann? Ich hatte a) den Eindruck, dass sie öffentlich ist, und b) drängte mich die Biologie. Der Vorwand war (was für eine niederträchtige List), gemeinsam im Radio Paul Temple zu hören ( Paul Temple und der Fall Vandyke ), aber dann hieß esplötzlich, die Mädchen dürften nicht auf die Jungenzimmer kommen, und so blieb ich einsam und allein zurück und verschrumpfte mich in mein Loch, während Ilan mit ein paar Kumpels verschwand – meines Wissens alles Mädchen (nur damit du es weißt) –, und bestimmt haben sie da kräftig geknutscht.«
    »Heute Morgen, meine Liebe«, schrieb er am nächsten Tag,

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