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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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gibt es viele Geschichten, sagt sie, aber eine muss ich dir unbedingt erzählen, die mit Adam und Ofer passiert ist, sag mir, wenn du müde wirst.
    Müde? fragt er lachend, ich hab lang genug geschlafen.
    Wir hatten da eine riesige Geschichte, kurz vor Adams Bar Mizwa, die kann ich mir bis heute nicht erklären …
    Die Hündin rennt aufgeregt hin und her, knurrt, sträubt ihr Fell. Ora und Avram schauen sich um. Ora denkt für einen Moment, da kommt der Mann, der mein Notizbuch hatte, er ist mir nachgejagt. Doch einige Meter entfernt, vor einem Brombeerstrauch, stehen zwei riesige Wildschweine und schauen sie mit kleinen Augen an. Die Hündinjault, drückt sich flach auf den Boden und kriecht zu Ora zurück, schmiegt sich fast an ihr Bein. Die Wildschweine schnuppern in der Luft, ihre Schnauzen öffnen sich, einen Moment regt sich gar nichts. Nur ein kleiner Vogel auf einem nahen Baum beschreibt, was sich hier abspielt. Ora spürt, ihr Körper reagiert auf das Wilde, Ungebändigte in ihnen. Ihre Haut juckt, in ihr pulsiert etwas Scharfes, Tierisches, das so viel stärker ist als das, was sie empfand, als die Hunde sie angriffen.
    Mit einer abrupten Bewegung brechen die Schweine grunzend auf und laufen weg, ihre dicken Körper tänzeln schwerelos mit triumphierender Zufriedenheit.

    Dina, 49 . Ich treffe sie an der Quelle Ejn Aravot.
    Wonach sie sich sehnt:
    »Als meine Mutter starb, war ich zwölf. Mein Vater hat seine Familie, Frau und drei Kinder, in der Schoah verloren, in Auschwitz. Er ist nach Transsilvanien zurückgegangen und hat da meine Mutter getroffen, die in Auschwitz Mengele überlebt hatte. Die zwei, die mit der nackten Haut davongekommen waren, heirateten und wanderten fünf Jahre später ein. Meine Mutter konnte nicht schwanger werden, aber eine reiche Tante hat sie zu Therapien gebracht, die man damals in Tel HaSchomer machte, und so wurde sie schwanger, und ich kam zur Welt.
    Sie haben mich in Watte gepackt, ich war ihr wertvollster Schatz. Mein Vater war etwas depressiv, und meine Mutter, patent, wie sie war, hat den ganzen Laden geschmissen.
    Als ich zwölf war, hat meine Mutter Pfirsiche geerntet, um Marmelade für den Kuchen zu meiner Abschlussfeier der siebten Klasse zu kochen. Da hat eine Schlange sie in den Finger gebissen, und drei Tage später war sie tot.«
    (Meine liebe Tami, Tamara, Tamjuscha! sie hat ein bisschen geweint, als sie das erzählte, und gesagt: Sehen Sie, das ist so viele Jahre her, und trotzdem noch eine offene Wunde.)
    Und dann haben sie bei uns im Moschaw gesagt:Was wird jetzt aus dem armen Mädchen. Ich war ein Mädchen mit vielen Ängsten, aber ich hatte keine Wahl und habe unseren Betrieb anstelle meiner Mutter geführt. Rechnungen, den ganzen Papierkram, denn mein Vater las nur Ungarisch und Rumänisch. Wenn wir den Tierarzt brauchten, hab ich ihn gerufen, und ich hab auch alle Einkäufe gemacht; mein Vater ließ mir da freie Hand.
    Mein Vater ist jeden Morgen mit dem Maulesel und dem Wagen zum Grünzeugschneiden gefahren, mit der Sense. Er hat den Maulesel irgendwo angehalten, und ich bin abgestiegen und habe mir die Blumen angeschaut. Später hat er einen großen Haufen Klee und Luzerne auf den Wagen geladen, alles, was er zwischen den Orangenhainen sensen konnte, und ich bin wieder aufgestiegen und hab mich auf dieses scharf duftende grüne Polster gelegt. Auf der Heimfahrt hab ich die Augen geschlossen und nur ab und zu geblinzelt und versucht, anhand der Wolken und der Strommasten herauszubekommen, an welcher Stelle des Weges wir waren.
    In diesen Momenten war ich völlig ohne Sorgen.«
    »Und was bereuen Sie?«
    (Sie möchte einen Moment nachdenken. Sie hat ein nettes Gesicht, ist Sonderschullehrerin. Ich denke noch manchmal an die Besitzerin meines Notizbuches, die mit mir keinen Kaffee trinken wollte. Ich glaube, sie hätte dir gefallen.)
    »Gut. Das ist nicht genau Reue. Mehr Traurigkeit als Reue. Meine Mutter war eine harte Frau. Es tut mir leid, dass sie nicht mehr gesehen hat, wie weit ich es gebracht habe. Ich glaube, das hätte ihr gutgetan, denn so vieles, was ich heute bin, habe ich ihr zu verdanken, der Art, wie sie mich großgezogen und auf die richtige Spur gesetzt hat.«
    Danach hat sie auch mir ein paar Fragen gestellt. Ich hab ihr ein bisschen erzählt. Sie meint, deinen Namen schon mal gehört zu haben, oder einen Artikel von dir über Dramatherapie gelesen zu haben, und vielleicht war sie sogar mal in einem Vortrag von dir (hätte sie dich in

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