Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
Vom Netzwerk:
erst gestern gewesen. Als wäre ich gestern noch ein Mädchen gewesen. Sie wischt sich die Augen, der gegenüberliegende Hang ist dicht bewachsen, eine Familie von Klippdachsen sonnt sich dort, da verschwimmt das Bild schon wieder, sie sollte lieber sehen, wo sie hintritt, pass auf, hier geht es wieder bergauf, bis zu diesem Felsvorsprung, unter dem sich ein Wasserfall in die Tiefe stürzt, fall jetzt bloß nicht runter, halt dich an dem Geländer fest. Neta weiß also Bescheid.
    Die Hündin kommt und reibt sich an ihren Beinen, als wolle sie ihr Mut zusprechen; Ora beugt sich vor und krault zerstreut ihren Kopf. Neta weiß es also. Die Blase des Geheimnisses wurde aufgestochen, die undurchdringliche Blase, in der man fast erstickte und in der Ora gelernt hatte zu atmen. Avram selbst hat sie aufgestochen. Ein Luftzug von draußen dringt ein. Was für eine Erleichterung, ein neuer, tiefer Atem.
    Was hat sie gesagt, fragt Ora und kann sich kaum auf den Beinen halten.
    Dass ich ihn treffen muss.
    Ach, murmelt Ora, das hat sie gesagt?
    An dem Abend, als ich dich anrief, bevor du zu mir gekommen bist, fährt Avram schwerfällig fort, wollte ich dir das sagen.
    Was? Sie kriegt kaum noch Luft, beugt sich ganz und gar über die Hündin und vergräbt zehn zitternde Finger in ihrem Fell.
    Dass ich, wenn er mit dem Militärdienst fertig ist, Avram artikuliert jedes Wort gestochen scharf; dass ich ihn dann gerne … aber natürlich nur, wenn du und Ilan, wenn ihr nichts dagegen habt.
    Nun sag schon.
    Dass ich ihn dann gern mal sehen würde.
    Ofer.
    Einmal.
    Du wolltest ihn sehen.
    Zur Not auch nur aus der Ferne.
    Ja?
    Ohne dass er … Ich will mich nicht in eure …
    Und das sagst du mir jetzt?
    Er zuckt mit den Schultern, steht wie angewurzelt auf dem Fels.
    Und als du angerufen hast – jetzt begreift sie es erst –, da hab ich dir erzählt, dass er …
    Dahin zurückgeht, ja, und da konnte ich nicht mehr …
    Sie nimmt ihren Kopf in beide Hände und drückt und drückt und verflucht verzweifelt diesen Krieg, diesen einen, nie endenden, dem es wieder einmal gelungen war, ihr in die Seele zu kriechen. Sie reißt den Mund auf, ihre Lippen spannen sich, bis das Zahnfleisch zu sehen ist, und ein kalter, spitzer Schrei reißt sich aus ihrer Kehle los und erschüttert die Vögel, dass sie verstummen. Die Hündin hebt den Blick zu ihr, ihre klugen Augen weiten sich immer mehr, bis sie es nicht mehr erträgt und vor Ora in ein herzzerreißendes Jaulen ausbricht.

    Channi und Daniel, religiös (haben sich mit neun bei den »Bnej Akiba« kennengelernt), 38 , schon siebzehn Jahre verheiratet, gehen Hand in Hand. Sie haben mir erzählt, dass sie einmal die Woche wenigstens für einen Tag wandern gehen, jedes Mal woanders im Land. Er ist Dozent für Bibelkunde, sie Logopädin. Sie waren sehr nett, weigerten sich aber standhaft, auf meine Fragen zu antworten. Die haben sie verlegen gemacht.
    Ganz zum Schluss sagte Channi: »Sagen Sie, kann ich mich nach etwas sehnen, was ich noch nie hatte?«

    Er hat Neta zum letzten Mal gesehen, als er ihr beim Streichen ihrer neuen Wohnung in Jaffa half. Ein Zimmer im vierten Stock, ohneAufzug, mit einer kleinen Kammer als Küche und einem Ausgang aufs Dach. Sie auf einer großen Malerleiter, einen Joint in der einen Hand, in der andern einen Tünchquast, und er auf einer Haushaltsleiter. Ihre drei Katzen rennen zwischen den Leitern herum. Eine ist nierenkrank, die zweite zurückgeblieben, die dritte ist die Seele ihrer Mutter, die in einer Katze wiedergeboren wurde und ihr so das Leben zur Hölle macht. Vorher haben hier Gastarbeiter aus China gewohnt, und eine Wand ist noch von kleinen Nagellöchern übersät. Die Nägel waren in einer bestimmten Form angeordnet, und sie und Avram versuchen, deren Bedeutung herauszubekommen. Sie besteht darauf, ein löchriges graues Männerunterhemd anzuziehen, das sie in dem zurückgelassenen Müll gefunden hatte, »so erweise ich der Milliarde Chinesen etwas Ehre«, sagt sie, und er freut sich, sie im Unterhemd zu sehen.
    Alle paar Wochen füllt sie mir den Kühlschrank auf, erzählt er, und macht Großputz in meiner Wohnung. Sie möbelt mich etwas auf, interessiert dich das überhaupt?
    Ja, natürlich. Ich höre zu.
    Von dem Geld, das sie nicht hat, kaufte Neta ihm eine teure Musikanlage, und sie hören zusammen Musik. Manchmal liest sie ihm ganze Bücher vor, ein Kapitel nach dem andern. Und zu keiner Droge sagt sie nein, erzählt er, auch Koks und Heroin nimmt

Weitere Kostenlose Bücher