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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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furchtbar zum Lachen bringen. Mit solchen Deklamationen hat sie wirklich nichts am Hut. Weißt du, was, sagt er und richtet sich auf, du musst sie kennenlernen.
    Okay, bei Gelegenheit. Und was passierte dann?
    Als sie mit Engellaufen an der Reihe war, ist sie nicht reingegangen.
    Ora nickt. Noch bevor er es ausspricht, weiß sie es schon.
    Sie ist in den Wald gelaufen und hat da bis zum Morgen gesessen. Sie konnte es nicht. Sie hatte das Gefühl, ihre Zeit, etwas zu empfangen, sei noch nicht gekommen.
    Plötzlich weiß Ora, was Avram und Neta gemeinsam haben: Für sie beide ist Gestreicheltwerden immer auch ein bisschen, als würden sie geschlagen. Sie schlingt sich beim Gehen fest die Arme um den Körper. Diese Neta weckt in ihr widersprüchliche Gefühle; in den letzten Minuten empfindet sie ihr gegenüber plötzlich eine zarte, mütterliche Zuneigung. Und Neta weiß von Ofer. Avram hat ihr von Ofer erzählt.
    Sag mal, was weiß sie von mir?
    Sie weiß, dass es dich gibt.
    Ora schluckt trocken.
    Und du – endlich wird sie diesen Klumpen los –, liebst du sie?
    Lieben? Was weiß ich. Ich fühl mich gut mit ihr. Sie weiß, wie sie mich nehmen muss. Sie lässt mir Raum.
    Nicht wie ich, sagt sich Ora und denkt an die Beschwerden ihrer Jungs.
    Zu viel Raum, denkt Avram besorgt, wo bist du, meine Netuschka?
    Nachdem sie ihre kleine Wohnung gestrichen hatten, trugen sie die Leitern hinaus aufs Flachdach, und sie brachte ihm bei, mit der Leiter zu laufen. In ihren Nomadenzeiten, erklärt er Ora, wenn sie manchmal so rumzieht, verdient sie sich ihr Geld mit Kunststücken auf der Straße, schluckt Feuer und Messer, jongliert, schließt sich für eine Weile einem Straßenzirkus an. Wie zwei betrunkene Heuschrecken stelzten sie unter dem Abendhimmel auf ihren Leitern zwischen Sonnenkollektoren und Antennen aufeinander zu. Danach stieg sie mit Schwung auf den Rand des Daches, und sein Blut stockte.
    Also, was meinst du, fragte sie mit ihrem traurig-süßen Lächeln: Besser wird es wohl nicht mehr, sollen wir der Sache jetzt ein Ende machen?
    Er bückte sich, hielt mit den Händen seine Leiter fest, Neta ging auf ihrer Leiter seitlich im Krebsgang auf dem Dachrand weiter. Hinter ihr sah er Dächer, einen blutigen Sonnenuntergang, das Dach einer Moschee. Du bist so ein Sturkopf, Avram, sagte Neta wie zu sich selbst, du hast mir zum Beispiel noch nie gesagt, dass du mich liebst. Ich habedich, wenn ich mich recht erinnere, zwar auch nie gefragt, aber eine junge Frau muss etwas in dieser Art einmal in ihrem Leben von ihrem Mann hören. Aber du bist geizig. Sagst mir, wenn’s hochkommt, mal »ich mag deinen Körper«, »ich bin gern mit dir zusammen«, »ich mag deinen Hintern«, solche neunmalklugen Vermeidungsformeln. Vielleicht sollte ich es endlich begreifen?
    Die Füße ihrer Leiter stießen an die Randsteine des Daches, und die Spreizkette spannte sich zwischen den Holmen. Avram entschied sich im Bruchteil eines Augenblicks: Wenn ihr etwas passieren würde, er würde sich hinterherstürzen.
    Geh ins Zimmer, murmelte sie, auf dem Tisch neben dem Aschenbecher liegt so ein kleines braunes Buch. Geh und bring es mir.
    Avram schüttelte den Kopf.
    Geh schon, ich mach auch nichts, bis du zurückkommst. Pfadfinder-Ehrenwort.
    Er war von der Leiter gestiegen und ins Zimmer gelaufen. Ein, zwei Sekunden war er drinnen, und sein Blut raste: Sie wird springen. Er schnappte sich das Buch und lief zurück aufs Dach.
    Und jetzt lies da weiter, wo ich aufgehört habe.
    Seine Finger zitterten. Er schlug auf und las: »… denn ich hatte ja meinen Lebensmenschen , den nach dem Tod meines Großvaters entscheidenden für mich in Wien, meine Lebensfreundin, der ich nicht nur sehr viel, sondern, offen gesagt, seit dem Augenblick, in welchem sie vor über dreißig Jahren an meiner Seite aufgetaucht ist, mehr oder weniger alles verdanke.« Er drehte das Buch um und sah: Thomas Bernhard, Wittgensteins Neffe.
    Weiter, aber mit mehr Gefühl.
    »Ohne sie wäre ich überhaupt nicht mehr am Leben und wäre ich jedenfalls niemals der, der ich heute bin, so verrückt und so unglücklich, aber auch glücklich, wie immer.«
    Ja, sagte sie zu sich selbst, hielt die Augen in höchster Konzentration geschlossen.
    »Die Eingeweihten wissen, was alles sich hinter diesem Wort Lebensmensch verbirgt, von und aus welchem ich über dreißig Jahre meine Kraft und immer wieder mein Überleben bezogen habe, aus nichts sonst.«
    Danke, sagte Neta wie im Traum, während

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