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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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seinen Mund auf ihren.
    Und bleibt. Und bleibt.
    Ah, atmet sie weich.
    Ahhhhh, stöhnt er überrascht.
    Sag mal …
    Was?
    Hast du was gespürt?
    Nein. Alles wie immer.
    Sie lacht: »Wie immer«!
    Ich meine, so wie du früher warst.
    Erinnerst du dich noch?
    Ich erinnere mich an alles.
    Auch daran, dass ich von Küssen ganz benommen werde? Und manchmal ohnmächtig?
    Auch daran.
    Wirst du aufpassen, wenn du mich küsst?
    Ja.
    Mein Gott, wie hab ich dich geliebt, Avram.
    Er küsst sie wieder. Seine Lippen sind so weich, wie sie sie in Erinnerung hat.
    Sag mal … Meinst du, wir werden miteinander schlafen?
    Er zieht sie fester an sich, sie spürt seine Kraft. Wieder denkt sie, diese Wanderung tut ihm gut, und ihr auch.
    Sie gehen weiter, erst Hand in Hand, dann wieder jeder für sich, neue Fäden der Verlegenheit entspinnen sich zwischen ihnen, und die Natur zwinkert, versprüht Farbflecken, Heiliger Pippau und Kreuzkraut , Bahnen von violetten Klee- und Leinblüten, richtet riesige violette – wenn auch stinkende Aronstab-Blüten auf, blinzelt mit Sumpfdotterblumen und hängt kleine Orangen und Zitronen an die Bäume. Anregend ist dieses Laufen, sagt Ora, die Luft und so, oder? Merkst du das nicht auch?
    Er lacht verlegen, und bei Ora werden sogar die Augenbrauen warm.

    Neta kennt er schon dreizehn Jahre. Sie behauptet, sie habe ein paar Abende lang in dem Pub gesessen, in dem er gearbeitet hat, und er habe kein Auge von ihr gelassen. Er sagt, er habe sie überhaupt nicht bemerkt, bis sie sich eines Abends an der Bar übergeben musste und zusammenbrach. Damals war sie neunzehn und wog siebenunddreißig Kilo, und er trug sie gegen ihren Willen in einer stürmischen Winternacht – kein Taxifahrer war bereit, sie mitzunehmen – zu einem befreundeten Arzt in Jaffa, und sie zappelte auf dem ganzen Weg, ihre dünnen Arme und Beine schlugen erbarmungslos auf ihn ein, sie bedachte ihn mit den abscheulichsten Flüchen, und nachdem ihr die ausgegangen waren, rezitierte sie die Liste der Flüche, die Schalom Alejchem von seiner Stiefmutter gesammelt hatte, in alphabetischer Reihenfolge, angefangen bei Aussatzbeulen, Auswurf und ausgewrungenem Nastuch über Beulenfinger, gemeiner Dieb, Knochenschädel bis Rabbi von Drasna und zahnloses Lästermaul, und er selbst vervollständigte für sie die Liste und murmelte einige besonders gute Flüche, die sie übersprungen hatte. Als sie auch mit dieser Liste durch war, begann sie, ihn schmerzhaft zu kneifen und malte ihm aus, wozu man sein Fleisch, sein Fett und seine Knochen verwenden könnte. Avram zog die Augenbrauen hoch, und als sie von den Speckstreifen sprach, die sie gern aus ihm machen würde, murmelte Avram, der kein Wort und keinen Satz, den er im Leben gelesen hatte, vergessen konnte: »wahrlich ein erlesener Tod … erstickt im weißesten und feinsten, wohlriechenden Walrat; eingesargt, aufgebahrt und bestattet in der Geheimkammer tief im Wale, in seinem Sanctum Sanetonum.« In der alten Übersetzung, fügte er hinzu, hieß es noch viel schöner »Spermaceti«. Moby Dick war eine besonders fruchtbare Fundgrube für sie gewesen, und die Viper in seinen Armen verstummte auf einen Schlag, schielte zu dem schwerfälligen Ungetüm, das zwischen den Regengüssen Dunstblasen ausstieß, und stellte fest, ihr seid euch schon ziemlich ähnlich, du und der weiße Wal.
    Neunzehn? fragt Ora nach und denkt, ich war sechzehn, als wir uns kennenlernten.
    Er zuckt mit den Schultern: Mit sechzehn war sie schon von zu Hause abgehauen und trieb sich im Land und in der ganzen Welt herum. Eine Zigeunerin aus gutem Haus. Vor etwa zwei Monaten hatsie sich zum ersten Mal eine kleine Wohnung in Jaffa gemietet, jetzt wird sie wohl bürgerlich.
    Ora ist unruhig. Sie will jetzt nicht über Neta reden.
    Gegen ihren Willen erfährt sie, dass Neta immer verhungert aussieht – nicht unbedingt, dass sie etwas essen muss, eher so ein allgemeiner, existenzieller Hunger, und dass ihre Finger fast immer zittern, vielleicht wegen der Drogen, vielleicht aber auch, weil, wie sie sagt, ihr Leben auf einer ziemlich hohen Voltzahl summt. Jahrelang wohnte sie während der Sommermonate in einem alten Simca, den ihr einer ihrer Freunde vermacht hatte. Sie besaß auch ein kleines Zelt, das sie überall aufschlug, wo man sie nicht vertrieb. Er erzählt, und Ora – schon der Name Neta ätzt wie Eis im Gedärm, obwohl sie in der Sonne laufen. Und überhaupt, was soll dieser plötzliche Redefluss bei ihm! Warum schiebt

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