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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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Adam ist – rein äußerlich – sagen wir mal, er zieht nicht auf Anhieb die Aufmerksamkeit auf sich, er fällt nicht gleich auf, ja? Andererseits ist er, wenn man ihn kennt, sehr charismatisch, unheimlich charismatisch sogar. Der kann zum Beispiel …
    Wie sieht er aus?
    Du meinst – soll ich ihn dir beschreiben?
    Ein paar Einzelheiten.
    Der Einzelheitenbär: entfernter Verwandter des Ameisenbärs, fast ausgestorbene Unterart der Gattung Bär, lebt von einzelnen Details und nur von ihnen – mit diesen Worten hatte Avram sich zum Abschluss der achten Klasse in einer Broschüre mit dem Titel Bestimmungsbuch für Menschentiere des 28. Jahrgangs vorgestellt, in dem er Schüler und Lehrer seines Jahrgangs gemäß einer zoologischen Ordnung beschrieben und auch wunderbar gezeichnet hatte.
    Er ist ein bisschen klein, im Vergleich, das hab ich dir schon gesagt, und hat sehr schwarzes Haar, wie Ilan früher, aber mit Mittelscheitel, und das Haar hängt ihm links und rechts wie zwei Flügel runter, so halbrund über die Ohren – Ora deutet es mit der Hand an.
    Ihr Gesicht funkelt. Was ist? fragt er. Gar nichts, antwortet sie und zuckt leicht gereizt mit einer Schulter. Doch je mehr Avram ins Leben zurückkehrt – so schweigsam, schwerfällig und abwesend er dabei ist –, umso mehr magnetisiert er sie und zwingt sie zu einer feinen, ganz und gar lupenreinen Genauigkeit, die ihr eine angenehme, schon Jahre nicht mehr empfundene Wärme bereitet.
    Zwei junge Pärchen gehen an ihnen vorbei. Die beiden Frauen nicken zum Gruß und schauen neugierig zu ihnen herüber, die Männer sind unüberhörbar ins Gespräch vertieft. Wir beschäftigen uns vor allem mit intelligenten Charts zur biometrischen Erkennung, erzählt der größere der beiden, gerade arbeiten sie bei uns an einem Projekt, wo ein Palästinenser, der reinkommen will, dem biometrischen System nur seine Handfläche und sein Gesicht hinhalten muss, die werden dann gelesen. Verstehst du? Kein Kontakt mit den Soldaten, keine Reden, nichts. Alles tipptopp steril, K.o.K., Kommunikation ohne Kontakt.
    Und hinter das linke Ohr, sagt Ora, als sie vorüber sind, schiebt er die Haare zurück, das ist besonders hübsch, ein richtiges Schmuckstück.
    Sie schließt die Augen: Adam, seine Wangen schimmern auch heute noch rötlich unter dem Bartflaum, ein Andenken an die Kindheit. Und er hat lange Koteletten. Und große, bittere Augen.
    Die Augen sind das Auffallendste in seinem Gesicht, sagt sie, groß wie die von Ofer, aber ganz anders, sie liegen viel tiefer und sind richtig schwarz. Wir sind überhaupt eine Augenfamilie. Und seine Lippen – da stockt sie überraschend.
    Was ist mit denen?
    Nein, nein, ich find sie schön, sagt sie, konzentriert sich einen Moment auf ihre Handflächen, ja, doch.
    Aber?
    Er hat da auf der Oberlippe so eine Art Krampf.
    Was für einen Krampf?
    Na gut, sie holt tief Luft, wappnet ihr Gesicht, dann ist der Moment wohl gekommen.
    Siehst du, was ich hier hab?
    Er nickt, ohne sie anzuschauen.
    Genau so was, nur zieht es bei ihm nicht nach unten, sondern nach oben.
    Aha.
    Sie überqueren einen flachen Seitenarm des Flusses, hüpfen von Stein zu Stein, halten sich ab und zu aneinander fest.
    Viele Fliegen heute, sagt Avram.
    Das ist bestimmt die Hitze.
    Ja. Abends werden es bestimmt noch mehr …
    Sag mal …
    Was.
    Ist das sehr auffällig?
    Nein, nein.
    Weil du noch gar nichts dazu gesagt hast.
    Ich hab es kaum bemerkt.
    Ich hatte da so eine kleine Sache, stößt Ora hervor, nichts Dramatisches, etwas mit dem Gesichtsnerv, etwa einen Monat nachdem Ilan weggegangen ist. Mitten in der Nacht ist es passiert. Ich war allein zu Hause und hatte furchtbare Angst. Sieht es schlimm aus?
    Ich sag dir doch, man merkt es kaum.
    Aber ich spüre es. Sie berührt mit dem Finger den rechten Rand der Oberlippe und schiebt sie ein bisschen nach oben. Dauernd hab ich das Gefühl, dass mir das Gesicht da runterfällt.
    Aber man sieht wirklich nichts, Orale.
    Das sind nur zwei Millimeter, die ich nicht spüre, am Rest der Lippe hab ich ganz normale Empfindungen.
    Ja.
    Eines Tages wird das weggehen. Das bleibt bestimmt nicht so.
    Sie gehen auf einem schmalen Weg zwischen Maulbeer- und Walnussbäumen.
    Sag mal, Avram …
    Was.
    Bleib mal stehn.
    Er bleibt stehen. Wartet. Zieht die Schultern ein bisschen hoch.
    Wärst du vielleicht bereit, mir einen kleinen Kuss zu geben?
    Steif wie ein Bär kommt er auf sie zu. Er schaut sie nicht an, umarmt sie und pflanzt entschlossen

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