Eine Frau flieht vor einer Nachricht
sie, wird aber irgendwie von nichts abhängig.
Außer von dir, lacht Neta, wenn er ihr ab und zu ein Programm zum Avram-Entzug andrehen will.
Von mir wirst du nicht viel haben.
Und Illusionen – sind Illusionen nichts?
Du bist jung, erklärt er ihr, du kannst Kinder kriegen, eine Familie haben.
Aber du bist der einzige Mensch, mit dem ich mich familiieren würde.
Vielleicht hat sie sich in jemanden verliebt. Dieser Gedanke schmerzt ihn weitaus mehr, als er gedacht hätte. Vielleicht hat sie es endlich doch eingesehen?
Was ist passiert? fragt Ora.
Keine Ahnung. Avrams Schritte werden schneller. Plötzlich begreift er, dass er, wäre Neta nicht in seinem Leben oder überhaupt nicht amLeben, vielleicht keinen Grund hätte, nach der Wanderung nach Hause zurückzukehren.
Ich mach mir ein bisschen Sorgen um sie. Sie ist in letzter Zeit verschwunden.
Und das ist nicht normal bei ihr?
Das ist schon vorgekommen. Sie ist so eine, die kommt und geht.
Wenn wir ein Telefon sehen, versuchst du, sie anzurufen?
Ja.
Vielleicht hat sie dir zu Hause eine Nachricht hinterlassen.
Er rennt fast. Versucht, sich an ihre Mobiltelefonnummer zu erinnern, und schafft es nicht. Er, der sich an alles erinnert, an jeden Quatsch, an jeden blöden Satz, den ihm jemand vor dreißig Jahren gesagt hat, jede zufällige Zahlenkombination, er, der bei der Armee die Personenkennziffern sämtlicher Soldaten und Offiziere im Abhörbunker auswendig konnte, und sämtliche, auch die geheimen Telefonnummern aller Kommandeure der Einheit; und natürlich alle Namen und Personenkennziffern der Kommandeure sämtlicher Brigaden und Divisionen der ägyptischen Armee; samt deren Privatadressen, Telefonnummern zu Hause und manchmal auch den Namen ihrer Frauen, Kinder und Geliebten; und die Unterlagen der monatlich wechselnden Codes für die Verschlüsselungen in sämtlichen nachrichtendienstlichen Einheiten des Südkommandos. Und ausgerechnet bei Neta kommen ihm jetzt die Zahlen durcheinander.
Sie ist wahnsinnig jung, murmelt er. Ich bin alt, und sie ist so jung. Er schaut Ora traurig an: Das ist ein bisschen wie einen Hund großzuziehen, von dem du weißt, er wird vor dir sterben, nur dass in diesem Fall ich der Hund bin.
Ora hält unwillkürlich der Hündin die Ohren zu.
Über Neta hat er eine ganze Clique kennengelernt. Leute wie sie. Zart und mittellos, »zerbrochene Gefäße« nennt sie sie. Sie bewegen sich in Rudeln. An den Stränden des Sinai, am Nizzanim-Strand, in der judäischen Wüste, man trifft sie in Ashrams in Indien, auf Festivals mit viel Musik, Drogen und freier Liebe, in Frankreich, Spanien oder im Negev.
Weißt du, was »Engellaufen« ist?
Eine Sportart?
Er nimmt Ora mit auf ein Rainbow-Festival in Holland oder Belgien. Alle teilen da alles miteinander, erklärt er ihr mit einer Begeisterung, als wäre er selbst dort gewesen: Jeder hilft bei den Mahlzeiten mit und bezahlt für die Mahlzeiten mit dem, was er eben hat. Nur Drogen bezahlt man mit Geld.
An einem Abend hat sie beim »Engellaufen« mitgemacht, sagt er und wirft Ora ein Lächeln zu, das gar nicht für sie bestimmt ist; seit er jung war, hat sie es nicht mehr bei ihm gesehen. Wie das Flimmern einer Kerze in einem staubigen alten Lampion. Wer kann diesem Lächeln widerstehen, fragt sie sich.
Die Leute stehen einander in zwei Reihen ziemlich dicht gegenüber, er zeigt mit den Händen wie nah, und in der Regel kennt man sich nicht. Alles Fremde. Jedes Mal geht ein anderer aus der Gruppe mit geschlossenen Augen zwischen den Reihen durch, bis zum Ende.
»Spießrutenlauf« schießt es Ora durch den Kopf. Wie oft hatte er davon gesprochen, in tausend verschiedenen Zusammenhängen, bis es manchmal so schien, als wäre die ganze Welt ein einziger Spießrutenlauf, in den der Mensch bei seiner Geburt geworfen wird, er stolpert da durch, wird geschlagen und getreten – und am Ende gebrochen und geschunden wieder ausgespuckt.
Den, der gerade dran ist, erzählt Avram, führt man langsam und sanft zwischen den beiden Reihen durch, und alle berühren ihn, umarmen und streicheln ihn, flüstern ihm Sachen ins Ohr, du bist so schön, du bist wunderbar, du bist ein Engel, und so geht das bis zum Ende der Reihe; da erwartet ihn einer mit einer großen Umarmung, und dann reiht er sich wieder ein.
Und, haben sie Neta auch so umarmt?
Warte, sie hat zuerst in den Reihen gestanden und ein paar Stunden lang die anderen gestreichelt und umarmt und Sachen geflüstert, die sie normalerweise
Weitere Kostenlose Bücher