Eine Frau flieht vor einer Nachricht
er ausgerechnet jetzt Neta zwischen uns?
Und wovon lebt sie? (Sei großzügig, ermahnt sie sich.)
Das ist nicht so ganz klar. Sie braucht nur wenig. Schwer zu glauben, mit wie wenig sie auskommt. Und sie malt auch, sagt er, und Oras Herz sinkt noch ein bisschen tiefer, na klar doch, denkt sie.
Vielleicht hast du es in meiner Wohnung gesehen, die Wände, die sind von ihr.
Die riesigen aufwühlenden Kohlezeichnungen – warum hatte sie ihn bisher nicht danach gefragt? Vielleicht, weil sie die Antwort ahnte? –, Propheten, die Lämmer und Zicklein an ihrer Brust stillen, der Greis, der sich über ein Mädchen beugt, das zu einem Kranich wird, eine Jungfrau, die aus einer Wunde in der Brust des göttlichen Hirschs geboren wird. Sie erinnert sich an die Zeichnung der Frau mit der Mohawk-Frisur und fragt, ob Neta so rumläuft, und Avram lacht, früher mal, das ist schon lange her. Ich hab das nicht gemocht. Jetzt hat sie langes Haar, bis hier.
Ja, sagt Ora, und sag mal, diese leeren Alben, die ich bei dir gesehen habe, die ohne Bilder, sind die auch von ihr?
Nein, das ist etwas von mir.
Du sammelst?
Ich suche, sammle, verbinde Sachen, die Leute wegwerfen.
Du verbindest?
Ja, ich verbinde allen möglichen Trödelkram.
Sie gehen auf halber Höhe des Wadis, der Fluss fließt tief unter ihnen, er ist nicht mehr zu sehen. Die Hündin läuft vorneweg, gefolgt von Ora und Avram als Lumpensammler. Er erzählt ihr von seinen kleinen Arbeiten, versucht sie herunterzuspielen, nur so Kleinkram, um die Zeit rumzubringen. Zum Beispiel Fotoalben, die Leute weggeworfen haben, oder von Leuten, die gestorben sind – da reißt er die Fotos raus und klebt die Bilder anderer Leute, ganz anderer Familien ein; wieder andere Fotos überträgt er auf Blechschachteln, direkt auf den Rost, oder auf verrostete Motorhauben. Überhaupt interessiere er sich in letzter Zeit für Rost, sagt er, für die Stelle oder den Moment, wo das Metall zu Rost wird. Und Ora denkt sich, da bin ich ja richtig.
Der Weg führt wieder ins Wadi hinunter, und plötzlich strahlt Avram und beschreibt begeistert einen 1943 in England gedruckten Geografie-Atlas, den er im Müll gefunden hat. Wenn du da reinschaust, kämst du nicht drauf, was damals in der Welt passierte, sagt er, alle Länder sind aus irgendeinem Grund noch in den alten Grenzen, da gibt es keine Judenvernichtung, keine Besetzung Europas, keinen Krieg, ich kann stundenlang dasitzen und mir das anschauen, und in die Ecken dieser Landkarten habe ich Ausschnitte aus einer russischen Zeitung geklebt, die ich auf dem Müll gefunden habe, aus Der Stalinist , auch von 1943, aber da wird der Krieg schon richtig beschrieben, es gibt Karten von den Kämpfen und entsetzliche Zahlen von Toten – und wenn ich diese beiden Blätter miteinander verbinde, dann läuft mir – Ora! –, dann läuft mir Strom durch den ganzen Körper.
Sie erfährt, dass er und Neta auch ein bisschen zusammen arbeiten. Wir haben beide diesen Tick – Avram errötet –, dass wir auf der Straße alte Sachen, Schrott suchen und uns überlegen, was man daraus machen könnte. Ich bin immer etwas praktischer, sagt er mit einem entschuldigenden Lächeln, aber sie ist viel gewagter; ohne es zu merken, zieht er sich aus der Geschichte zurück und beschreibt Ora ein bisschen, was Neta in ihrem kurzen Leben schon alles gemacht hat, ihre verschiedenen Verwandlungen, ihre Reisen, die Handwerke, die sie gelernt hat, ihre Krankenhausaufenthalte, ihre Abenteuer und die wechselnden Männer in ihrem Leben, und Ora meint, er beschreibe er das Leben einer Siebzigjährigen. Überhaupt, sagt er voller Bewunderung, ist sie mutig, so viel mutiger als ich, sie ist vielleicht der mutigsteMensch, den ich je getroffen habe – und er schmunzelt, denn er erinnert sich, dass Neta immer sagt, sie bestehe vor allem aus Ängsten, aus Ängsten und Zellulitis – und Ora sieht plötzlich die durchgestrichenen schwarzen Striche über seinem Bett, und eine klare Linie, die von ihnen zu den Kohlezeichnungen in seinem Wohnzimmer führt; ein Funke durchfährt ihren Körper: Sag mal, weiß Neta …?
Von Ofer?
Ora nickt. Ihr Herz beginnt zu rasen.
Ja, ich hab ihr von ihm erzählt.
Sie streckt die Arme seitlich aus und geht weiter, sehr durcheinander, taucht ihre Füße in den Fluss, sucht ihr Gleichgewicht auf den runden Bachkieseln. Das ist der Nachal Amud, denkt sie, ich war mit der Klasse mal hier, bei der Wanderung vom Mittelmeer bis zum See Genezareth. Als wäre es
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