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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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über dem Tal des Sees Genezareth, das ganz bewässert ist, ruhen sie sich aus. Ein begehrtes Ausflugsziel. Auch eine Schulklasse ist hier unterwegs, Jungen und Mädchen kreischen, fotografieren sich gegenseitig, rennen durcheinander. Reisebusse laden Touristengruppen aus, und Reiseleiter schreien um die Wette. Doch Ora und Avram sind mit ihren eigenen Dingen beschäftigt. Ein leiser Wind weht, wohltuend nach dem anstrengenden Aufstieg. Sie hatten auf dem Weg nach oben kaum gesprochen – er war besonders steil gewesen; in den Fels gehauene Stufen und Eisenpflöcke hatten ihnen geholfen; doch alle paar Schritte hatten sie anhalten und durchatmen müssen. Aus einem Beduinendorf am Fuße des Berges hatten sie Hühner schnattern, eine Schulglocke bimmeln, Kinder schreien hören, und über sich in der Felswand hatten sie eine Reihe aufgerissener Münder gesehen: Die Höhlen, in denen sich die Rebellen gegen Herodes versteckt hielten, hatte Avram gemurmelt – »das hab ich irgendwo gelesen« –, aber die Soldaten des Herodes überlisteten sie und ließen sich in Käfigen vom Gipfel des Berges zu ihnen hinunter und zogen sie mit Stangen an Eisenhaken aus den Höhlen und warfen sie in die Tiefe.
    Über dem Plateau und dem Trubel der Menschen schwebt im blauen Himmel ein Adler auf einer Säule warmer Luft, die aus dem Tal aufsteigt. In großen Kreisen und mit wunderbarer Leichtigkeit schwebt er auf der Luftsäule, bis sich die aufgetürmte Wärme auflöst und er weiterfliegt, eine andere Bö zu suchen. Avram und Ora genießen diesen Anblick: seinen Flug, die in der Hitze violett flimmernden Berge des Golans und Galiläas, das blaue Auge des Sees Genezareth, bis Ora eine Erinnerungstafel sieht, an Feldwebel Ro’i Dror seligen Angedenkens, der am 18.6.2002 unter ebendiesem Felsvorsprung ums Leben kam bei Übungen der Antiterroreinheit »Duvdevan«. » Er fiel sachte, wie ein Baum fällt. Ohne das leiseste Geräusch fiel er in den Sand.« (Der Kleine Prinz). Ohne ein Wort stehen sie auf und fliehen zu einem anderenEnde des Plateaus, doch auch an ihrem neuen Zufluchtsort steht ein Gedenkstein. Im Gedenken an Stabsfeldwebel Sohar Minz, der 1996 im Südlibanon fiel, und Ora bleibt stehen und liest mit weit aufgerissenen Augen: Er liebte das Land und starb für das Land, er liebte uns und wir liebten ihn . Avram will sie an der Hand weiterziehen, doch sie rührt sich nicht von der Stelle, und er reißt sie mit Gewalt fort. Du warst dabei, mir von Adam zu erzählen, erinnert er sie, und sie, oj Avram, wo soll das alles enden, sag mir, wo soll das alles enden, es gibt schon keinen Platz mehr für die vielen Toten.
    Jetzt erzähl mir von Adam, sagt er.
    Aber, mir ist etwas eingefallen, ich wollte dir noch etwas von Ofer erzählen.
    Wieder spürt sie diesen kleinen Schubs, mit dem sie Ofer jedes Mal in den Vordergrund der Bühne befördert, wenn sie den Eindruck hat, dass Avram sich zu sehr für Adam interessiert.
    Was ist mit Ofer? fragt er, doch sie spürt, er ist noch immer mit dem Rätsel Adam beschäftigt.
    Sie nehmen den südlichen Abhang in Richtung Karnej Chittin. Der Weg ist leicht abschüssig, zu beiden Seiten Weizenfelder, die Ähren reifen golden in der Sonne. Sie entdecken ein völlig unberührtes Eckchen, wie ein kleines Nest auf der Erde, um sie herum Kissen violetter Lupinen, Avram legt sich hin und streckt sich aus, Ora liegt ihm gegenüber, und die Hündin kommt und drängt sich fast unter ihren Kopf. Ora spürt den warmen, atmenden Körper, der sie braucht, und ist einen Moment versucht, den Eid, den sie nach Nikotins Tod abgelegt hat, zu brechen und sie zu adoptieren.
    Als Talia Ofer verlassen hat – meine Söhne werden anscheinend immer verlassen, schimpft sie leise, also haben sie wohl doch etwas von mir mitbekommen –, warte, das muss ich dir erklären. Adam fand keine ernsthafte Freundin, ich meine, keine richtige Liebe, bis Ofer Talia mitbrachte.
    Denk mal, sagt sie, zwei solche Jungs, wirklich nicht die schlechtesten, die haben schon was zu bieten, und trotzdem hatten sie so lange keine Freundinnen. Denk doch an uns in dem Alter. Denk an dich.
    Natürlich dachte er daran, sofort, sie sah in seinem Gesicht, dass er dort war, mit siebzehn, mit neunzehn, mit zweiundzwanzig. Wie vonSinnen umwirbt er sie, aber gleichzeitig auch jedes andere Mädchen, das er sieht. Es war ihr nicht gegeben, seinen Geschmack in Sachen Mädchen zu verstehen; jede war seiner ewigen und absoluten Liebe wert, jede wurde unter seinem

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