Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman

Vom Netzwerk:

das ist doch nicht schlecht, er kicherte amüsiert: Bestimmt würden viele diese Zeit gern nochmal erleben.
    Dieser Lumpen stinkt entsetzlich, murmelte er, aber wenigstens blutet es nicht mehr. Die Hand kann ich kaum noch bewegen. In den letzten Minuten wieder höllische Schmerzen. Und das Fieber steigt. Ich würd mich so gern ausziehn, aber ich will nicht nackt sein, wenn die kommen. Und sie noch auf Gedanken bringen.
    Er atmete schnell, hechelte wie ein Hund. Man konnte spüren, wie er seine Geschichte überreden wollte, zu ihm zurückzukommen und ihn zu beleben.
    Die Kinder werden schon mit neun oder zehn Jahren heiraten, Jungen und Mädchen, sie bekämen eine Chance, noch etwas vom Leben zu haben.
    Ilan legte den Stift aus der Hand, rieb sich fest die schmerzenden Augen. Er sah Avram unter der Erde auf dem Rücken liegen wie in einer kleinen Gebärmutter, die er sich im Bauch der Erde geschaffen hatte, und um ihn herum strömte die ägyptische Armee. Der unbesiegbare Avram, dachte er.
    Sie würden kleine Wohnungen bekommen, die Kinder, und selbständig leben. Abends würden sie Arm in Arm am Meer spazieren gehen. Die Erwachsenen würden sie betrachten, seufzen, sich nicht wundern.
    So viele Ideen kommen mir erst jetzt.
    Alles so lebendig vor meinen Augen.
    Hey, jubelte Avram plötzlich, wenn mich jemand hört, dann schreibt das bitte für mich auf, diese Idee mit den Kindern! Ich habe keinen Stift, so ein Mist.
    Ich schreibe, murmelte Ilan, erzähl weiter, gib nicht auf.
    Vielleicht würden die Regierungen auch ihre Bürger ohne deren Wissen unter Drogen setzen, minimale Dosierung nur, etwa über die Wasserversorgung. Aber warum eigentlich? Was bringt das?
    Um die Angst zu betäuben?
    Das muss ich noch überlegen.
    Ilan fiel ein, dass Avram immer gesagt hatte, wenn ihm eine gute Idee käme, könne er sogar in einem Betonmischer daran arbeiten.
    Dieser Chinese hat also recht, sann Avram nach, nichts schärft die Gedanken so sehr, wie die Nähe eines Flammenwerfers.
    Und die Leute würden vielleicht ihre Katzen und Hunde loswerden wollen.
    Aber warum? Tiere sind doch eigentlich ein Trost, nein?
    Nein, denk doch mal nach, in ihrem Zustand können sie niemandem mehr Liebe geben, sie haben keine Reserven mehr.
    Also ein Zeitalter des puren Egoismus?
    Ich weiß nicht … Würden die Leute wild werden? Straßengangs? Das absolute Böse? Der Mensch dem Menschen ein Wolf?
    Nein, das ist zu einfach. Das ist abgedroschen. Sie sollen ihren Lebensrahmen doch lieber bewahren, vor allem zum Ende hin. Das ist das Starke. Das wird das Starke an dieser Geschichte, dass es den Leuten doch irgendwie gelingt, ihn zu bewahren …
    Er murmelte, begeisterte sich und erlosch dann wieder, und Ilan verfolgte ihn, versuchte, jedes Wort festzuhalten, und wusste, dass sich noch nie im Leben ein Mensch vor ihm so aufgerissen hatte, selbst Ora nicht, auch nicht, wenn er mit ihr schlief. Und während er schrieb, notierte er für sich die neue Einsicht, die kühle und klare Erkenntnis, dass er selbst kein wirklicher Künstler war, nicht wie Avram, nein, nicht wie er.
    Und, meine Liebe, ich vergaß, dir zu sagen, sie werden ihre Babys aussetzen.
    Ja, ja, Eltern werden ihre Babys aussetzen.
    Warum nicht, mein Vater hat das auch gemacht, als ich fünf war.
    Gott im Himmel, was für Möglichkeiten! Ein Jahr, Mensch, ein Jahr lang hab ich damit festgesessen, die ganze Zeit ging es nicht, nur stotternd, es kam mir so abwegig und trivial vor, und auf einmal …
    Ilan schrieb mit, und er wusste mit einer Klarheit, mit der er nicht mehr haderte: Wenn er hier lebend rauskäme, würde er sich einen neuen Weg suchen müssen. Was er hatte werden wollen, würde er nicht mehr werden. Filme würde er nicht machen. Auch keine Musik. Er war kein Künstler.
    Also angenommen, die Frauen kriegen ihre Kinder in allerlei Verstecken, ja?, in der freien Natur, auf Müllhalden, auf Parkplätzen, dann würden sie die Neugeborenen sofort sich selbst überlassen? Ja, das passt so … Eltern können den Schmerz nicht ertragen.
    Aber diese Sache steht noch nicht ganz.
    Ich kann mir nicht vorstellen, wie das ist, Eltern. Eltern und Kinder. Von Familien versteh ich nichts. Das ist das Schlimme, die Leute würden genug Zeit haben, die Bedeutung dessen, was auf sie zukommt, zu verstehen.
    Und andererseits, oder dritter- oder vierterseits – jetzt wurde erwieder wach und lebendig –, das ist so eine Situation, in der man plötzlich alle Möglichkeiten wahrnehmen kann, alle