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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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Phantasien, es gibt keine Scham mehr, kapierst du das, Ora? Und vielleicht auch keine Schuld mehr, fügte er erleichtert hinzu und stieß ein kaum hörbares kleines Lachen aus, als könne er sich endlich eine tiefe und geheime Schuld eingestehen. Ilan legte den Kopf auf den Arm, drückte die Kopfhörer fester an die Ohren und schrieb, so schnell er konnte, jedes Wort mit.
    Warum nicht, ja, warum nicht, flüsterte Avram, als streite er mit sich selbst. Bin ich jetzt zu weit gegangen? Was würde Ilan dazu sagen? Dass ich mich wieder so aufblase?
    Und er lachte: Ein Glück, dass ich genug Ballons für alle seine Nadeln habe.
    Auch Ilan lachte erst. Dann verzerrte sich sein Gesicht.
    Niemand wird sich mehr dafür schuldig fühlen, was er ist. Und es wird eine Zeit geben, nicht lang, ein Monat würde mir schon reichen, sogar eine Woche, in der jeder Mensch das, wozu er bestimmt ist, ganz und gar verwirklichen kann, alles, was seine Seele und sein Körper für ihn bereithalten, und nicht, was andere Leute ihm übergestülpt haben. Verdammt, schnaubte er, wenn ich das doch aufschreiben könnte, was für ein Licht, mein Gott, was für ein gewaltiges Licht.
    Jeder Anblick, jede Landschaft jedes Gesicht, stöhnte er nach einer Weile, oder einfach ein Mann, der gegen Abend in seinem Zimmer sitzt, oder eine Frau allein im Café, oder zwei Leute, die über eine Wiese laufen und sich unterhalten, oder ein Kind, das einen Bubblegum aufbläst. Ein solcher Liebreiz in den kleinen Dingen, Orale, den musst du immer sehn, versprich mir das.
    Und ob ich schon wanderte im finstern Tal , flüsterte Avram, fürchte ich kein Unglück , denn meine Geschichte ist bei mir.
    Ich muss noch entscheiden, ob man dann überhaupt noch Geld benutzt …
    Das kannst du auf später verschieben …
    Es gibt kein Später mehr, du Idiot.
    Hallo, Israel, Heimat? Gibt es dich überhaupt noch?
    Der Sender wurde schwächer. Vielleicht ging die Batterie zur Neige. Ilans Bein trommelte unaufhörlich.
    Jetzt sollen sie endlich kommen, ächzte Avram, jetzt sollen sie endlich ihr idbach el-jahud, schlachtet die Juden, schreien und alles anzünden.
    Er atmete schwer. Man konnte nicht mehr sagen, wann er sich über seinen Zustand im Klaren war und wann er dahindämmerte. Alles wird sterben, weinte Avram hemmungslos, alle Gedanken und Ideen, die ich nicht mehr aufschreiben werde, und meine Augen werden verbrennen, und meine Zehen auch.
    Ilan, du Wichser, du elender, flüsterte er in seinem Weinen, diese Idee gehört jetzt dir. Wenn ich nicht zurückkomme, oder in einer dekorativen Urne, dann mach damit, was du willst. Mach einen Film daraus. Ich weiß doch, wie du tickst.
    Wieder hörte man Störgeräusche, so als stieße jemand im Hintergrund große Gegenstände um.
    Aber hör zu, eine Bedingung hab ich; das muss so anfangen: Eine Straße bei Tag, Leute laufen herum. Stille. Keine Geräusche, kein Geschrei, kein Flüstern. Keine Tonspur. Zwischen den Laufenden steht ab und zu einer auf einer Kiste – und dann zoomt die Kamera auf eine junge Frau, die, sagen wir, auf einem umgekehrten Waschbottich steht. Den hat sie von zu Hause mitgebracht, einen roten Waschbottich. Sie steht da und umarmt sich selbst. Sie lächelt traurig, sie lächelt in sich hinein …
    Ilan umklammerte die Kopfhörer, er meinte im Hintergrund Stimmen zu hören.
    Und sie achtet gar nicht auf die Menschen um sie herum. Sie spricht nur zu sich selbst. Und sie ist schön, Ilan, versprichst du mir das? Mit einer reinen Stirn und perfekten Augenbrauen, so wie ich das mag, und einen großen sexy Mund hat sie, vergiss das nicht. Kurz gesagt, lachte Avram, du weißt ja, wie sie aussehen muss. Vielleicht nimmst du sie sogar für diese Rolle?
    Es gab keine Zweifel mehr: Die Ägypter waren in Avrams Posten, doch Avram kriegte es nicht mit.
    Spielen kann sie nicht, lachte er, aber sie muss einfach sie selbst sein, und das kann sie besser als wir beide, nicht wahr? Du fotografierst ihr Gesicht, mehr musst du nicht machen, dieses fröhliche, arglose Lächeln …
    Die Stimmen wurden lauter. Ilan stand auf, sein linkes Bein trommelte wie verrückt, seine Hand presste die Kopfhörer an die Schläfen.
    Warte einen Moment, murmelte Avram verwirrt, hier ist plötzlich so ein …
    Don’t shoot schrie er, ana bila silach ! Ich bin nicht bewaffnet!
    Auf einen Schlag füllten sich Ilans Ohren mit kehligem arabischen Geschrei. Ein ägyptischer Soldat, der ebenso erschrocken klang wie Avram, brüllte. Avram flehte um sein

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