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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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Leben. Ein Schuss. Vielleicht hat er Avram getroffen. Er schrie. Seine Stimme war nicht mehr menschlich, dann kam ein anderer Soldat und rief seinen Kollegen zu, hier ist ein jüdischer Soldat. Auf der Frequenz mischten sich Geschrei, Gerenne und Schläge. Ilan wiegte sich vor und zurück und murmelte, Avram, Avram, und die Soldaten, die an ihm vorbeigingen, wendeten den Blick von ihm. Dann hörte er sehr nah eine Gewehrsalve, eine dumpfe, trockene Abfolge von Schüssen; dann Stille, das Wegschleifen eines Körpers, wieder Flüche auf Arabisch, lautes Gelächter und noch einen Schuss, einen einzelnen, und Avrams Funkgerät verstummte.

    Der Kommandeur des Postens versammelte die Soldaten im Befehlsbunker. Er sagte, es werde wohl keiner mehr zu ihrer Rettung kommen; sie müssten es jetzt auf eigene Faust versuchen. Er wollte ihre Meinung dazu hören. Man führte ein leises, freundschaftliches Gespräch: Einige sagten, sie müssten ihr Leben retten, andere fürchteten, dann würde das Militär und auch der Staat sie als Angsthasen und Verräter ansehen. Jemand erwähnte die historischen Gruppenselbstmorde in Massada und Jodfat. Ilan saß mit ihnen zusammen, er hatte keinen Körper, keine Seele mehr. Der Kommandeur fasste zusammen und sagte, er werde Arik jetzt mitteilen, dass sie heute Nacht aufbrächen. Jemand fragte, und was ist, wenn Arik nein sagt? Dann brummen sie uns dafür fünf Jahre Gefängnis auf, sagte ein anderer, aber wir werden leben.
    Das Feldtelefon funktionierte nicht, der Kommandeur benutzte das Funkgerät und verlangte, mit Scharon zu sprechen. Er sagte, die Lage sei aussichtslos, er habe beschlossen, den Posten aufzugeben. Ein kurzes Schweigen am anderen Ende, dann sagte Arik, okay, geht los, wir versuchen, euch entgegenzukommen. Die Soldaten hörten das Gespräch,Arik sagte, tut alles, um durchzuhalten. Er hielt inne, man konnte hören, wie es in seinem Kopf arbeitete. Schließlich seufzte er und sagte: Gut, also dann, äh, dann Schalom und macht’s gut …
    Die religiösen Soldaten baten, vor dem Aufbruch das Abendgebet zu sprechen, und einige andere schlossen sich an. Danach bereiteten sich alle zum Aufbruch vor. Sie füllten Wasserflaschen, prüften, ob sie nicht glucksten, leerten die Taschen von Münzen und Schlüsseln. Jeder nahm eine Waffe. Ilan bekam zu seiner Uzi noch eine Panzerfaust. »Ein Rohr gegen Panzer«, erklärte man ihm. Er wusste nicht, wie man sie bedient, sagte aber nichts.
    Um zwei Uhr nachts brachen sie auf. Bei Vollmond sah der Posten wie eine Ruine aus. Schwer zu glauben, dass diese schiefe Kiste sie in all den vergangenen Tagen geschützt hatte. Ilan hütete sich, nach links zu gucken, in die Richtung von Avrams Posten.
    Sie gingen in zwei Reihen, mit ziemlichem Abstand voneinander. An der Spitze von Ilans Reihe lief der Kommandeur, an der Spitze der anderen Reihe sein Stellvertreter. Neben dem Kommandeur lief ein Soldat, der in Alexandria geboren war. Sollten sie auf ägyptische Truppen stoßen, sollte er schreien, sie seien eine ägyptische Kommandoeinheit, unterwegs, die Juden zu ficken. Der Soldat repetierte halblaut seinen Text, versuchte, sich in den Geist einer ägyptischen Kommandoeinheit zu versetzen. Ilan lief irgendwo in der Mitte der Reihe, mit hängendem Kopf.
    Sie stolperten im Sand. Fielen lautlos. Fluchten nur im Stillen.
    Plötzlich hörten sie nicht weit entfernt Schreie auf Arabisch. Auf einer nahe gelegenen Straße fuhr ein ägyptischer Radpanzer. Ein Scheinwerfer auf dem Dach suchte die Straßenränder ab.
    Da merkten sie, dass sie auf einen ägyptischen Parkplatz geraten waren … all das hatte ihr Ilan in jenem Morgengrauen erzählt; sein Körper hatte sich schon beruhigt, doch er war noch mit ihr verschlungen, seine Hände umklammerten noch ihre Schultern. Ich bin sogar auf die Decke von jemandem getreten, der dort schlief.
    Wir haben uns nicht bewegt und nicht geatmet. Der Radpanzer fuhr weiter. Bemerkte uns nicht. Mit dreiunddreißig Mann haben wir da gelegen, und die haben uns nicht gesehn. Wir sind aufgestanden und zurück in die Dünen gerannt, bloß weg von der Straße.
    Wir liefen weiter nach Osten, erzählte er mit warmen Atemstößen in ihrem Nacken, die ganze Nacht über sind wir fast gerannt. Ich mit meiner Waffe und mit der Panzerfaust. Die war schwer, aber ich rannte um mein Leben. Da gab es nichts.
    Sie lag schockiert da, ihr Fleisch bebte noch. Sie wollte, dass er sich sofort aus ihr zurückziehe. Sie war nicht in der Lage zu

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