Eine Frau flieht vor einer Nachricht
denen sie leben, aufbrechen, zum Beispiel die Familie, oder werden sie bis zum letzten Moment alles so lassen wollen, wie es war? Was meinst du?
Und wenn die Leute zum Beispiel anfangen würden, einander nur die Wahrheit zu sagen, geradeheraus ins Gesicht, weil es keine Zeit mehr gibt, verstehst du, es gibt keine Zeit mehr.
In so einer Situation, murmelt er nach einigen Sekunden Schweigen, sehen auch die trivialsten Sachen, wie das bedruckte Papier auf einerBüchse Mais, ein Kuli oder sogar die kleine Feder eines Kugelschreibers, plötzlich wie Kunstwerke aus, meinst du nicht? Die Essenz der gesamten menschlichen Weisheit, der gesamten Kultur.
Shit, ich hab keinen Kuli hier. Jetzt könnte ich wirklich anfangen zu schreiben. Ich spür es, jetzt geht es wirklich.
Ilan stand auf, rannte in den Bunker, kramte in den Schubladen, fand ein paar Blätter, die das Militärrabbinat für Jom Kippur verteilt hatte, zweiseitig bedruckt, aber die Ränder waren breit und leer.
Ach liebste Queen Elisabeth , sang Avram ins Funkgerät. Ora, das musst du aufschreiben. Daran dichte ich schon eine ganze Weile. Und Ilan schrieb mit.
Ach liebste Queen Elisabeth, ach, könnt ich Euch bewahren/ vor diesem Unheil, das uns naht./ Denn Könige sollten mit Würde vergehn/ Elisabeth, geliebte Queen/ mit schweren Glockenschlägen/ und mit bekränzten Kutschen/ und mit zwölf stolzen Rappen.
Er sang und blies kräftig in die Sprechmuschel. Es war schwer, ihn zu verstehen. Die Melodie war eher ein konturloses Brummen, eine Art Rezitativ voller Pathos und Luft, und ohne es zu merken, überlegte Ilan sich eine musikalische Begleitung für dieses Lied.
Aber! krächzte Avram, und Ilan hätte schwören können, dass er dabei mit der Hand fuchtelte:
Vielleicht lassen wir Euch auch eher gehn/ Elisabeth, geliebte Queen./ Ein Diener reicht Euch den Schierlingstrank/ und wir erweisen Euch letzte Ehre und Dank/ drei Tage vor uns allen./ Dann sterbt Ihr unbehelligt von unsrer Not/ von massenhaftem, namenlosem Tod./ Und unsre hehren Gedanken an Euch/ Elisabeth, geliebte Queen/ die werden uns nicht im Wege stehn/ ganz billig zu verrecken.
Avram ging die Luft aus. Er ließ die letzten Worte nachklingen, und Ilan dachte wider Willen: Gar nicht schlecht für den Anfang, na gut, vielleicht ein bisschen viel Brecht, und auch Kurt Weil ist da vorbeigeschlichen. Und Nissim Aloni ebenso.
Solche Szenen, verstehst du, meine Liebe, schnaufte Avram, Dutzende, vielleicht Hunderte hatte ich in meinen Notizbüchern. Fuck them. Wie soll ich das alles rekonstruieren …
Und hör mal, da ist noch ein Satz, den Ilan und ich so mögen, vielleichtmuss man sagen gemocht haben, denn einer von uns, und das bin zu meinem großen Leidwesen ich, muss jetzt anfangen, die Vergangenheit zu üben: Ich habe gemocht, ich habe geliebt, ich habe gefickt, ich habe geschrieben – Scheiße auch.
Seine Stimme schlug wieder um, erneut begann er, leise zu weinen, er war kaum noch zu verstehen.
Das ist ein Satz des verehrten Thomas Mann aus Der Tod in Venedig , fuhr er nach einigen Augenblicken fort und klang hart und angestrengt – ein armseliges Echo der Stimme, mit der er früher Leute zum Lachen gebracht und seine Shows abgezogen hatte –, das ist ein wunderbarer Satz, hör dir den an, Ora: Der alte Maler dort, wie hieß er noch, Aschenbach, der litt unter »Künstlerfurcht«, hörst du?, unter »dieser Besorgnis, die Uhr möchte abgelaufen sein, bevor er das Seine getan und völlig sich selbst gegeben habe«, etwas in der Art. Ich fürchte, meine Liebe, dass mir aufgrund der Umstände meine Erinnerung nicht mehr zur Verfügung steht, und auch sonst nichts mehr. Wenn sie dich aufhängen, versprechen sie dir wenigstens eine gute Erektion, aber mit einem Flammenwerfer funktioniert das wahrscheinlich nicht …
Aber wie verfährt man kurz vor dem Ende der Welt mit Gefangenen? Sofort freilassen? Auch Mörder, Vergewaltiger und Einbrecher? Wie kann man unter solchen Umständen jemanden noch im Gefängnis behalten? Und was mach ich mit zum Tode Verurteilten?
Und Schulen? fragte er nach einem verzweifelten Schweigen, es hat doch keinen Sinn, weiter zu unterrichten oder jemanden auf die Zukunft vorzubereiten, wenn schon klar ist, dass er keine hat. Ich stell mir auch vor, dass die meisten Schüler gar nicht mehr in die Schule kommen würden, dass sie dann leben wollen, das Leben selbst leben. Vielleicht würden aber gerade die Erwachsenen zurück auf die Schulbank gehen, warum nicht? Ja,
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