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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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gelernt, und wie kommt es, dass ich das alles mitmache, dass ich denen, die ihn dorthin schicken, so gehorche. Außerdem hatte sich das Gift der Worte, die Ofer ihr einen Augenblick zuvor, als man sie fürs Fernsehen fotografierte, ins Ohr geflüstert hatte, da schon in ihr ausgebreitet. Seine letzte Bitte. Ihr Mund hatte sich in einem entsetzlichen Schmerz aufgerissen, nicht nur wegen der Worte, die er ihr sagte, sondern auch, weil er es in so einer geordneten, wohlformulierten Sachlichkeit tat, völlig klar, als habe er es vorbereitet und Wort für Wort auswendig gelernt, und gleich nachdem er es gesagt hatte, hatte er sie umarmt, diesmal jedoch, um sie vor der Kamera zu verstecken, denn sie hatte ihm doch schon einmal Schande gemacht, bei der Schlussfeier nach dem letzten Ausbildungsabschnitt, da hatte sie auf dem Appellplatz in Latrun gesessen und bitterlich geweint, als die ganze Parade vor der riesigen Mauer mit den Tausenden Namen der Gefallenen vorbeizog, laut hatte sie geweint, und die Eltern, die Offiziere und die Soldaten hatten sich nach ihr umgedreht, und der Chef der Panzertruppen hatte sich hinuntergebeugt und etwas zum Divisionskommandeur gesagt. Doch dieses Mal hatte sich Ofer, schon geübt, sofort auf sie geworfen, so wie man eine Decke auf ein Feuer wirft, hatte sie mit seinem Arm fast erstickt und über ihren Kopf hinweg bestimmt peinlich berührt nach allen Seiten geblickt, genug, Mama, mach mir hier keine Schande, Mensch.
    Gut, seufzte er jetzt, worum geht’s denn, Mama?
    Er gab sich jetzt schon ganz und gar geschlagen, und sie merkte es, es gab ihr einen Stich, und sie, um nichts geht’s, worum soll es auch gehn, und er, ehrlich gesagt, merkwürdig, dass du so bist, und sie, was ist merkwürdig, was ist merkwürdig? Einen Ausflug nach Galiläa zu machen ist merkwürdig, und in die Altstadt von Sichem reinzugehn, das erscheint dir normal? Und er, aber wenn ich nach Hause komm, bist du wieder zurück? Und sie, ich weiß noch nicht, und er, was heißt, ich weiß noch nicht? Er fragt unsicher, du hast doch nicht etwa vor, da irgendwie zu verschwinden oder so was, jetzt ist es wieder seine Stimme, die sie kennt, besorgt, beinahe väterlich zielt sie genau auf ihren allertiefsten Hunger, und sie, keine Sorge, Oferke, ich machda keinen Unsinn, aber ich werd einfach ein paar Tage nicht hier sein, ich kann nicht hier allein sitzen und warten, und er, warten worauf? Das kann sie natürlich nicht sagen, und da kapiert er endlich. Danach ein langes Schweigen, während dessen Ora mit einer Klarheit, die nicht mehr anzufechten ist, beschließt: genau achtundzwanzig Tage, bis sein Mobilmachungsbescheid abgelaufen ist.
    Und was, wenn das hier alles in zwei Tagen fertig ist und ich nach Hause komm, fragt er, erneut ärgerlich, oder wenn ich, sagen wir mal, verwundet werde oder so, wo findet man dich dann? Sie schweigt. Man wird mich nicht finden, denkt sie, genau darum geht es ja, und da kommt ihr noch ein Gedanke: Wenn man sie nicht findet, wenn es unmöglich ist, sie zu finden, dann wird er nicht verwundet werden. Sie versteht sich selber nicht. Sie versucht es. Logisch ist das nicht, spürt sie, aber was ist hier schon logisch? Und zur Beerdigung? erkundigt Ofer sich freundlich, ändert seine Taktik, ahmt, ohne es zu merken, Ilan nach, bei dem der Tod und seine Ableitungen manchmal die Kommas und Punkte in seinen Sätzen waren. Solchen Bemerkungen gegenüber war sie niemals immun gewesen, und jetzt noch weniger. Es scheint, als erschüttere sein Witz, wenn man das noch einen Witz nennen kann, sie beide, denn sie hört, wie er nur mit Mühe schluckt.
    Wieso bin ich überhaupt bereit, mit denen allen zu kollaborieren? Der umherirrende Grübelgedanke vom Nachmittag kehrt zurück, statt dass ich die Treue gegenüber …
    Mama, das ist kein Spaß, seine Stimme meldet sich wieder, vielleicht nimmst du doch ein Handy mit, damit man dich erreichen kann. Nein, nein, nein, sagt sie erschreckt – es scheint ihr, als verstehe sie ihren Plan jetzt jeden Moment besser –, bloß nicht. Er ist bestürzt, auch kein Handy? Nein. Warum nicht? Stell es ab, nur für Nachrichten, nur für SMS – mit SMS kommt sie sogar ganz gut zurecht, diese Fertigkeit hat sie in letzter Zeit dank ihres neuen Bekannten erworben, der, wer weiß, vielleicht auch ihr Liebhaber ist, dieser Typ, mit dem sie nur auf diese Art kommunizieren kann – sie überlegt einen Moment, schüttelt den Kopf, nein, auch das nicht. Und sie wird weitergerissen

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