Eine Frau flieht vor einer Nachricht
Augenblicke, hier und da, sehr selten, wo sein Inneres ganz offen vor ihr liegt, und wer weiß, denkt sie, vielleicht sind ihm gerade wegen dieser Augenblicke die arabischen Altstädte und die Muquataa lieber als eine Woche mit ihr in Galiläa. Sie nimmt an, dass nicht der Eid selbst ihm Angst macht, sondern die Tatsache, dass sie – ausgerechnet sie! – plötzlich mit allerlei schwarzer Magie durchknallt. Ofer hat seine Stimme wieder unter Kontrolle, er entfernt sich noch einen weiteren kleinen Schritt von ihr, okay, Mama, fasst er zusammen, jetzt ist er der Ältere,der beim Anblick des einfältigen jungen Mädchens, das sie ist, mit den Schultern zuckt: Wenn es das ist, was du jetzt brauchst, prima, dann mach es doch , ich steh hinter dir. Hey , ich muss los . Adieu, Oferiko, ich hab dich lieb, und du, Mama, mach da keinen Unsinn, versprochen? Du weißt, ich mach keinen … Nein, versprich es mir, lächelt er, wieder diese Wärme in seiner Stimme, bei der sie sofort schmilzt, ich versprech es dir, mach dir keine Sorgen, Lieber, ich werd okay sein. Ich auch. Versprich es. Versprochen. Ich hab dich lieb, Oferke. Also dann. Pass gut auf dich auf, Oferke. Du auch, und mach dir keine Sorgen, wird schon gutgehn, bye.
Bye, Ofer, mein Schatz …
Da steht sie, den Hörer in der Hand, fix und fertig und verschwitzt, und denkt mit völliger Klarheit, vielleicht war dies das letzte Mal, dass ich seine Stimme gehört habe. Sie hat Angst, zu vergessen, und denkt auch, wer weiß, wie oft du dieses belanglose Gespräch mit seinen nichtssagenden Sätzen im Kopf rekonstruieren wirst, ich habe ihm gesagt, pass gut auf dich auf, und er hat gesagt, mach dir keine Sorgen, wird schon gutgehn. Vielleicht ist der Einsatz ja auch in zwei, drei Tagen vorbei, dann wird dieses Gespräch wie hundert ähnliche in Vergessenheit geraten, aber nie zuvor hat sie so ein klares Gefühl gehabt; seit dem Morgen stechen Kältesplitter in ihren Bauch, schmerzen bei jeder Bewegung. Noch einen Augenblick saugt sie den Rest seiner Stimme aus der Leitung, erinnert sich, wie sie, als er ein Kind war, gemeinsam ihre Abschiedsküsse zu einer langen und komplizierten Zeremonie entwickelten – aber warte, war das mit ihm oder mit Adam? Die Zeremonie begann mit festen Umarmungen und heftigen Küssen, die dann immer feiner wurden, nur noch Andeutungen, und schließlich mit einem Schmetterlingsflügelschlag an seiner Wange, an ihrer Wange, auf seiner Stirn, auf ihrer Stirn, auf seinem Mund, ihren Lippen, seiner und ihrer Nasenspitze endeten, bis nur noch ein feiner Nachhall leichter Berührung übrig blieb, der Hauch von etwas Vorüberwehendem, beinahe unwirklich.
Das Telefon klingelt wieder, eine zögernde heisere Männerstimme prüft, ob das Ora ist, sie schnappt nach Luft, setzt sich und lauscht seinem schweren Atem. Er sagt, ich bin’s, und sie sagt, ich weiß, dass dues bist. Ein leises Pfeifen begleitet seinen Atem, sie meint, auch sein Herz schlagen zu hören. Sie denkt, bestimmt hat er ihn im Fernsehen gesehen, und es schießt ihr durch den Kopf: Jetzt weiß er also, wie Ofer aussieht.
Sag mal, fragt er, jetzt ist es vorbei, nicht wahr? Sie kommt durcheinander, was ist vorbei, sie fürchtet sich vor dem Schatten dieses Wortes, und er flüstert, sein Militärdienst? Als wir vor seiner Einberufung gesprochen haben, hast du gesagt, heute würde er fertig sein, nein?
Und siehe da, im allgemeinen Durcheinander hatte sie auch das vergessen. Ihn. Erfolgreich hatte sie auch seinen Anteil an den Verwicklungen weggewischt, er, der heute noch größeren Schutzes bedurfte als sie.
Hör mal, fängt sie an, wieder rutscht ihr das »Hör mal« verkrampft und lehrerinnenhaft heraus, und die Spannung, die sich in ihm gerade aufbaut, überträgt sich auf sie wie Strom, sie muss sich sehr konzentrieren, um die richtigen Worte zu wählen, sie darf jetzt keinen Fehler machen. Ofer hätte wirklich heute entlassen werden sollen – sie spricht langsam und vorsichtig, hört, wie in den hintersten Winkeln seiner Seele die Ängste alarmiert werden, sie sieht ihn geradezu vor sich, wie er sich mit der Bewegung eines geschlagenen Kindes die Hände schützend über den Kopf hält –, aber du weißt bestimmt, dass Notstand ist, das war in den Nachrichten, sie machen da jetzt diesen Einsatz, und dazu haben sie auch Ofer gerufen, gerade eben haben sie ihn im Fernsehen gezeigt. Beim Reden erinnert sie sich, dass er gar keinen Fernseher hat, und begreift endlich, was für einen
Weitere Kostenlose Bücher