Eine Frau flieht vor einer Nachricht
schreit, treibt zur Eile. Sie hört seine Gedanken. Er braucht sie jetzt zu Hause, darum geht es ihm, und er hat völlig recht, und sie gibt schon beinahe nach, wird gleich verzichten, doch im selben Moment ist sie alarmiert und weiß, diesmal hat sie keine Wahl.
Zähes Schweigen. Ora kämpft mit sich selbst, um sich von ihm abwenden zu können. Im Nu entfaltet sich in ihr die Landkarte der Erinnerung mit all den kleinen Schuldkreuzchen: Drei war er gewesen, da hatte er die schwierige Zahnoperation. Als der Anästhesist ihm die Maske auf Mund und Nase drückte, hieß man sie den Operationssaal verlassen. Seine entsetzten Augen flehten sie an, doch sie wandte sich ab und ging. Vier war er gewesen, da hatte sie ihn im Kindergarten – mit allen zehn Fingern an den Maschendrahtzaun geklammert und ihr hinterherbrüllend – zurückgelassen; bis zum Abend hatte sein Schreien sie verfolgt. Es hat nicht wenige solcher Szenen des kleinen Verlassens, der Flucht, des Augenverschließens, des verborgenen Antlitzes gegeben, und diese Szene heute ist zweifellos die schwerste, doch jeder Moment, den sie länger zu Hause bleibt, ist für sie gefährlich und auch für ihn, das weiß sie. Aber er kann es nicht verstehen. Sinnlos zu hoffen, dass er es verstehn wird. Er ist zu jung. Seine Bedürfnisse sind schlicht: Er braucht es, dass sie zu Hause auf ihn wartet, ohne etwas im Haus oder an sich selbst zu verändern, am besten soll sie sich in all diesen Tagen nicht von der Stelle bewegen – wie war er vor ihr zurückgeschreckt und hatte wütend getobt, erinnert sie sich, als er fünf war und sie sich die Locken hatte glätten lassen! – Und wenn er auf Urlaub kommt, wird er sie umarmen, sie aus ihrer Starre auftauen und sie benutzen können, sie mit kleinen Bruchstücken des Entsetzens beeindrucken, die er mit gespielter Schnoddrigkeit hier und da fallenlassenwird, mit Geheimnissen, die er ihr gar nicht erzählen darf. Ora hört seinen Atem. Sie atmet mit ihm. Beide spüren die unerträgliche Spannung in den Sehnen, den Sehnen ihres Sichabwendens.
Also für wie lang, denkst du, wirst du ausrücken, fragt er in einem Ton, in dem sich Ärger, Angst und ein Hauch der Niederlage mischen, und sie fleht, Ofer, sprich nicht so, du weißt genau, wie sehr ich diesen Ausflug mit dir machen wollte, du weißt, wie lange ich darauf gewartet habe. Und er, Mama, ich bin nicht schuld an der Mobilmachung, und sie, heldenhaft genug, ihn nicht daran zu erinnern, dass er sich freiwillig gemeldet hat, sagt, ich beschuldige dich ja auch nicht, und du wirst sehn, wir werden unseren Ausflug noch machen, wenn du dort fertig bist, das versprech ich dir, darauf verzichte ich nicht, aber jetzt muss ich hier raus, ich kann hier nicht alleine bleiben. Und er, natürlich, nein, natürlich, ich sag ja nicht, aber – er zögert – du übernachtest nicht irgendwo draußen im Gelände, alleine, meine ich? Und sie lacht, nein, bist du verrückt geworden, alleine übernachte ich nicht »im Gelände«. Und dein Handy nimmst du mit? Weiß nicht, das hab ich mir noch nicht überlegt. Sag mal, Mama, was ich dich fragen wollte, weiß Papa eigentlich, dass du …? Einen Augenblick steht sie in Flammen, wieso Papa?! Was geht das Papa überhaupt an? Erzählt der mir denn, wo er gerade unterwegs ist? Und Ofer zuckt zurück, schon gut, Mama, was hab ich denn Schlimmes gesagt.
Ein großer Seufzer entweicht ihm, ohne dass er es merkt, der Seufzer eines kleinen Kindes, dessen Eltern plötzlich durchdrehen und beschlossen haben, sich zu trennen, und Ora hört es und spürt seinen Kampfgeist schwinden und erschrickt, was mach ich denn da, ich kann ihn doch nicht so verwirrt und deprimiert in die Schlacht schicken. Doch sofort schießt ihr Säure den Hals hoch, woher hat sie diese Formulierungen plötzlich, »in die Schlacht schicken«, sie gehört nicht zu jenen Müttern, die ihre Söhne in die Schlacht schicken, was hat sie mit denen zu schaffen, und sie gehört auch nicht den heroischen Dynastien prächtiger Kibbuzim an, sei es Deganja, Bejt Alfa, Negba, Bejt HaSchita oder Kfar Giladi, und trotzdem wird ihr jetzt mit Entsetzen klar: Genau das tut sie, sie hat ihn zum Brigadentreffpunkt gebracht, hat dort gestanden, ihn dort, um ihn nicht vor seinen Freunden zu blamieren, angemessen und beherrscht umarmt, sie hat anderen Eltern,die genau dieselben Bewegungen machten, stolz und lächelnd hilflos zugenickt und dabei mit den Schultern gezuckt, wo haben wir alle diese Choreographie
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