Eine Frau flieht vor einer Nachricht
er ein Bekannter? eine Affäre? ein Fick? Und was war sie für ihn? »Liebhaberin« war zweifellos ein zu großes Wort für das, was zwischen ihnen war, lachte sie ihn im Stillen aus, und auch sich selbst lachte sie aus, er war zumindest der Beweis dafür, dass ihr Körper auch nach Ilan noch jene Elementarteilchen produzieren konnte, die einen anderen Menschen, einen Mann anzogen. So versank sie in Gedanken, und die ganze Zeit fuhren sie in einer langen Schlange in einem Stau, der unnatürlich leise durch das Wadi von Schaar HaGai vorankroch und in der Gegend des Flughafens noch dichter wurde. Heute sind überall Straßensperren, warf Sami plötzlich in den Raum. Etwas in seiner Stimme gab ihr wohl ein Zeichen, verriet eine verborgene Absicht. Sie wartete, dass er noch etwas sagte. Er schwieg.
Der Junge war eingeschlafen, seine Stirn glänzte vor Schweiß, und sein Kopf schaukelte leicht auf dem dünnen Hals. Sie bemerkte, dass Sami ihm eine abgewetzte Decke untergelegt hatte, damit sein Schweiß die neuen Bezüge nicht verschmutzte. Die rechte Hand, dünn und zerbrechlich, fuhr ab und zu hoch und zitterte verkrampft vor seinem Gesicht, und Ora streckte sofort den Arm aus und zog ihn zu sich. Er erstarrte, schlug die Augen auf, trüb und beinahe blind erschienen sie ihr, und starrte sie an, ohne etwas zu verstehen. Ora bewegte sich nicht, hoffte, er würde sie nicht wegstoßen. Er atmete unglaublich schnell, seine schmale Brust hob und senkte sich; und danach, als sei ihm die Kraft zu verstehen oder sich zu wehren ausgegangen, fielenihm die Augen zu und er schmiegte sich locker an ihren Körper, und seine Wärme übertrug sich durch die Kleider hindurch auf sie. Nach ein paar Minuten wagte sie es, ihn etwas fester zu umarmen, sie spürte, wie seine kükenhaften Schulterblätter sich bei ihrer Berührung anspannten, wartete noch mal ein bisschen ab und lehnte dann auch seinen Kopf vorsichtig an ihre Schulter, erst danach atmete sie wieder.
Sami reckte sich und schaute sie im Rückspiegel an. Seine Augen waren ausdruckslos, und sie hatte das merkwürdige Gefühl, dass er sie musterte und ihr Aussehen mit einem Bild in seiner Vorstellung verglich. Ihr wurde unbehaglich unter seinem Blick, schon löste sie sich beinah von dem Jungen, doch sie wollte ihn nicht aufwecken, und im Grunde fühlte sie sich doch gut, wie er sich so an sie schmiegte, trotz der enormen Hitze, die er verbreitete, und dem Schweiß, der sich zwischen seinem Gesicht und ihrer Schulter sammelte; und vielleicht gerade wegen dieser Wärme und Feuchtigkeit, einer Art vergessenem Kindheitseindruck, der sich ihr noch einmal aufdrückte. Sie schielte zu ihm hinüber: Jemand hatte ihm lieblos die Haare geschnitten, und zwischen den kurzen Haarstoppeln sah sie eine lange sichelförmige Narbe, die nicht gut verheilt war. Sein Gesicht sah bitter und starrsinnig aus. Wie ein kleiner, vergrämter alter Mann wirkte er auf sie, und sie freute sich, dass seine Finger lang und fein und besonders hübsch waren. Er legte sie im Schlaf auf ihre Hand, und nach ein paar Minuten drehte er sie um und offenbarte ihr seine weiche, säuglingshafte Innenhand.
Ofer. Ora zuckte zusammen. Fast eine Stunde lang hatte sie nicht an ihn gedacht.
Nicht Ofers Hände von heute, nicht die große, breite Hand mit den hervortretenden Adern auf dem Handrücken und der schwarzen Linie von Waffenöl unter den abgekauten Fingernägeln, das auch drei Monate nach der Entlassung – so ihre Erfahrung mit Adam – noch zu sehen sein würde, genauso wie die Schwielen auf allen Fingergelenken, die verheilten Schnittwunden, Narben und die Hautschichten, die weggekratzt, verbrannt, geritzt, geschnitten, eingerissen, genäht worden waren, die nachgewachsen, abgeschält, eingeschmiert und verbunden worden waren, bis sich schließlich diese braune, etwas wächserne Haut gebildet hatte. Diese militärische Hand, die trotz allem in ihren Bewegungen so ausdrucksvoll war, in der Großzügigkeit ihrerBerührung, wenn sich die Finger aneinanderschmiegten, in der unbewussten kindlichen Bewegung, mit der manchmal sein Daumen über die Kuppen der anderen Finger fuhr, als zähle er sie ab, oder bei dem beiläufigen Abbeißen der Nagelhaut des kleinen Fingers … Nein, Mama, da hast du nicht recht, hatte er ihr dabei einmal gesagt, sie erinnerte sich nicht mehr, worum es damals ging, ihr fiel einfach das Bruchstück dieses Bildes ein, wie er sich die Haut um den Nagel des kleinen Fingers abbiss, dabei die Stirn
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