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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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mich, jechrabbethum, soll ihr Haus einstürzen, sie glauben alle, ich wär – seine Stimme ging in ein unverständliches Gemurmel über. Ora beugte sich nach vorn. Erzähl mir, was mit ihm los ist, verlangte sie leise, nichts ist mit ihm los, sagte Sami. Was ist das für eine Geschichte mit diesem Kind? wollte sie wissen. Es gibt keine Geschichte, schrie er nun, schlug mit der Hand aufs Steuer, und der Junge umklammerte sie und hielt den Atem an. Nicht alles muss immer eine Geschichte haben, Ora! Sie spürte das Sticheln und die Verachtung, mit der er ihren Namen aussprach. Sie hatte auch den Eindruck, dass er beim Sprechen mehr und mehr seinen israelischen Akzent ablegte und sich ein anderer, rauherer, fremder Klang in seine Stimme schlich. Ihr, fauchte er sie durch den Rückspiegel an, ihr sucht immer überall eine Geschichte! Für eine Sendung im Fernsehen oder für einen Film auf euren Festivals, stimmt es etwa nicht? Nein? Hab ich nicht recht?
    Ora schreckte zurück, als hätte er sie geohrfeigt. »Ihr« hatte er sie genannt, »eure Festivals« gesagt und gegen sie den Akzent der Palästinenser aus der Westbank eingesetzt, über die er sich sonst nur lustig machte. Er provozierte sie mit seinem angelernten, demonstrativ arabischen Verhalten. Und der, der Junge da, fuhr er fort, ist bloß ein krankes Kind, einfach bloß krank, er ist behindert, mit dem kannst du keinen Film machen! Über den gibt’s auch keine Geschichte! Wir bringen ihn wo hin, zu einem Doktor, und dann fahren wir weiter, wo du hinmusst, ich fahr dich da hin, und das war’s dann und fertig! Ora spannte die Lippen an, mit einem Mal brannten sie rot: Gerade das »ihr«, in das er sie hineingepresst hatte, verlieh ihr unerwartete Kräfte, als stünde sie jetzt nicht ihm allein gegenüber, sondern ihnen allen: Ich will wissen, von wem der Junge ist, sagte sie langsam, als buchstabiere sie die Worte einzeln. Und zwar jetzt, noch vor der Straßensperre will ich das wissen. Er schwieg. Sie hatte den Eindruck, dass ihre herrische Stimme ihn wieder zur Vernunft brachte und ihn auch an zwei, drei Dinge erinnerte, an die sie ihn niemals hatte ausdrücklich erinnern wollen oder müssen. Langes Schweigen. Sie spürte ihren Willen und seinen, wie jeder sich aufblähte und sich gegen den anderen sträubte. Danach stieß Sami einen langen Atemhauch aus und sagte: Der ist voneinem, den ich kenn. Der ist in Ordnung, über den haben sie bei euch, bei der Sicherheit, nichts, mach dir keine Sorgen. Alles in Ordnung.
    Seine Schultern entspannten sich. Er fuhr sich mit der Hand über die Glatze, ließ sie auf der Stirn ruhen und bewegte staunend den Kopf: Ora, ich weiß nicht, was ich hab, ich bin total geschafft, einfach fix und fertig. Ihr habt mich heut total verrückt gemacht. Ihr alle. Es reicht, ich brauch jetzt Ruhe, bloß Ruhe, ya rabb, Gott im Himmel.
    Sie lehnte den Kopf zurück. Sie dachte, alle drehen durch. Dann darf er auch. Durch die halbgeschlossenen Augen sah sie, wie er nervös zu den Leuten schaute, die links und rechts von ihm in den Autos saßen. Drei Fahrspuren verengten sich zu zweien und danach zu einer. Etwas weiter vorn sah man schon das blaue Blinken auf den Dächern einiger Fahrzeuge. Ein Polizeijeep parkte quer am Straßenrand. Ohne die Lippen zu bewegen, fragte Ora, wenn sie mich fragen, was sag ich dann?
    Wenn sie fragen, sag, dass es dein Kind ist, aber sie werden nicht fragen. Er starrte auf die Straße, um nicht im Spiegel ihrem Blick zu begegnen. Ora nickte still vor sich hin. Das ist also meine Aufgabe hier, dachte sie, deshalb auch diese Klamotten, diese Jeans und Schimon Peres. Sie legte den Arm um den Jungen, zog ihn an sich, und sein Kopf sank auf ihre Brust. Sie sagte ihm leise seinen Namen ins Ohr, und er öffnete die Augen und schaute sie an. Sie lächelte, seine Lider fielen wieder zu, und im nächsten Augenblick lächelte er sie an wie im Traum. Schalt die Heizung an, sagte sie zu Sami, er zittert.
    Sami stellte die Heizung hoch. Sie kochte, aber der Junge zitterte etwas weniger. Sie tupfte ihm mit einem Taschentuch den Schweiß ab und strich über sein Haar. Das Fieber ging ihr unter die Haut und erinnerte sie: Vor etwa einem Jahr war ein alter Araber in einem Kühlraum in Hebron vergessen worden. Er hatte dort fast achtundvierzig Stunden verbracht. Er ist nicht gestorben, hat sich vielleicht sogar wieder gefangen und ist wieder er selbst. Doch seit diesem Tag war ihr Leben immer mehr zerbrochen. Die blauen Lichter

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