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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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in Falten legte und sagte, da hast du wirklich nicht recht, Mama.
    Jetzt in Samis Taxi, mit dem Kind, das sich mit erstaunlichem Vertrauen an sie schmiegt und in ihr Blättchen eines völlig unbegründeten Stolzes aufkeimen lässt, erhält sie beinah eine Bestätigung für etwas, an dessen Existenz sie selbst schon zu zweifeln begonnen hatte – du bist keine richtige Mutter, hatte Adam ihr vor nicht allzu langer Zeit, noch bevor er ausgezogen war, erklärt. So einfach und mit fast ausdrucksloser Stimme hatte er sie zerschmettert, mit einer pseudowissenschaftlichen, objektiven Feststellung für null und nichtig erklärt, und plötzlich schwebt das Lasso einer fernen Erinnerung über ihr, legt sich sanft um ihren Hals, und sie sieht diese winzige Faust von Ofer direkt nach seiner Geburt vor sich: Man hatte ihn auf ihre Brust gelegt, und sie versuchte, aus Ofers riesigen blauen Augen, die sie mit seltener Ruhe anschauten, Kraft zu schöpfen. Vom Moment seiner Geburt an sucht er Augen, vom Moment seiner Geburt an zieht sie aus ihm Kraft, und nun sieht sie seine kleine Faust vor sich – Fäustleinchen, hätte Avram gesagt, wenn er in diesen Augenblicken bei ihr gewesen wäre; noch jetzt konnte sie sich nur schwer damit abfinden, dass er nicht mit ihr und Ofer dort gewesen war. Wie kam es, dass er da nicht mit ihnen zusammen gewesen war – beim Anblick dieser tiefen Falte unterhalb der Handwurzel und der dunklen Röte der winzigen Hand, die bis vor wenigen Minuten noch ein inneres Organ gewesen war und noch immer so aussah, sich dann langsam öffnete und Ora ein schneckenhausähnliches, rätselhaftes Inneres offenbarte – was hast du mir von dort mitgebracht, mein Kind, aus dem dunklen tiefen All –, mit dem Gewirr eingezeichneter Linien, mit der spinnwebenhaften, leicht fettigen weißlichen Schicht, die sie überzog, mit Fingernägeln wie durchsichtige Granatapfelkernchen, mit den Fingerchen, die sich wieder fest umihren Finger schlossen: So bist du mir nun angetraut mit der Weisheit Tausender von Jahren und vergangener Zeitalter.
    Der Junge röchelte, seine Zunge suchte auf den Lippen. Ora fragte Sami, ob er Wasser im Auto habe. Im Handschuhfach lag noch von der vorigen Fahrt ihre Wasserflasche. Sie führte sie an die Lippen des Jungen, der trank ein bisschen und übergab sich fast. Vielleicht mochte er den Geschmack nicht. Sie goss sich ein wenig Wasser in die flache Hand und strich vorsichtig über seine Stirn, seine Wangen, seine trockenen Lippen. Sami musterte sie wieder mit diesem angespannten Gesicht. Es war der Blick eines Regisseurs, blitzte es in ihr auf, der eine Szene prüft, die er selbst gestellt hat. Der Junge bekam eine Gänsehaut und grub sich tiefer in ihren Körper. Plötzlich schlug er die Augen auf und schaute sie an, ohne sie zu sehen, nur sein Mund öffnete sich zu ihr mit einem merkwürdigen traumhaften Lächeln, und für einen Moment war er anmutig und kindlich, und sie beugte sich wieder nach vorne und fragte Sami, nun schon eindringlicher flüsternd, nach seinem Namen. Sami holte tief Luft, lieber nicht, Ora. Sag mir, wie er heißt, wiederholte sie, ihre Lippen wurden weiß vor Wut. Jasdi heißt er, Jasdi. Der Junge hörte seinen Namen, erzitterte im Schlaf und stieß einige arabische Wortfetzen hervor. Seine Beine zuckten wild, als wäre er im Traum auf der Flucht, würde rennen. Ora sagte, er braucht dringend einen Arzt, und Sami erwiderte, seine Familie, da bei Tel Aviv, die haben einen Arzt, den besten Fachmann für seine Krankheit. Ora fragte, was er denn hat, Sami sagte, etwas im Bauch, er ist schon so geboren, nicht in Ordnung im Bauch, irgendwas mit der Verdauung. Er isst nur drei oder vier Sachen, alles andre kommt gleich wieder raus. Danach, als habe man ihn zu dem Geständnis gezwungen, sagte er, er ist auch hier nicht in Ordnung. Wo? Und die Seite ihres Körpers, die den Jungen berührte, verspannte sich. Im Kopf, sagte Sami, zurückgeblieben. Vor drei Jahren ungefähr ist er so geworden. So auf einmal? fragte Ora, so was passiert doch nicht plötzlich. Bei ihm ist es aber plötzlich gekommen, sagte Sami und presste die Lippen zusammen.
    Sie drehte den Kopf zum Fenster, sah ihr Spiegelbild mit dem an sie geschmiegten Kind. Plötzlich fuhren sie sehr langsam, ein Schild kündigte eine Straßensperre in dreihundert Metern an. Sami bewegte dieLippen schnell, als streite er in Gedanken mit jemandem. Einen Moment hob er die Stimme, womit hab ich das verdient, warum sind alle gegen

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