Eine Frau flieht vor einer Nachricht
betrachtete die kleinen Stühle, die umgekehrt auf den Tischen standen. Auf einem großen bunten Karton sah sie unter der Überschrift »Brücken bauen« eine aufgemalte Brücke und darunter viele Vierecke von Konflikten, die friedlich gelöst werden müssen. Aschkenasim und Sephardim, Linke und Rechte, Religiöse und Säkulare – Sami und der Bärtige standen ein paar Schritte weiter neben der Tafel und unterhielten sich leise mit einem kleinen stämmigen älteren Mann mit silbergrauem Haar. Sami nickte ihr mit verschlossenem Gesicht kaum merkbar zu, er ignorierte sie fast. Sie schaute ihn an. Etwas in der Art, wie er dastand, an seinen die Luft zerschneidenden Handbewegungen, war für sie neu an ihm, völlig fremd. Drei kleine Kinder zwischen zwei und drei Jahren entdeckten Ora und rannten aufgeregt um sie herum, zogen sie ohne Hemmungen an der Hose und an den Händen. Sie gaben kaum einen Laut von sich, bemerkte Ora staunend, auch sie waren bereits erfahrene Küken des Steinhuhns. Sie folgte ihnen in eine Ecke des Klassenzimmers ans Fenster. Ein paar Frauen saßen dicht zusammengedrängt um eine Person herum. Ora schaute zwischen den Köpfen der Frauen hindurch: Auf dem Boden saß mit ausgestreckten Beinen eine große Frau, barfuß, an die Wand gelehnt, und stillte Jasdi. Sein Mund schloss sich um ihre Brustwarze, und seine Beine baumelten von ihren Hüften. Jetzt trug er andere Kleidung, ein braunweiß kariertes Hemd und eine schwarze Stoffhose. Das erste Mal sah Ora sein Gesicht entspannt. Die stillende Frau schaute ihn konzentriert an. Sie hatte ein kräftiges, wildes Gesicht, knochige, etwas männliche Wangen, und ihre Brust wargroß und weiß. Die Frauen waren wie hypnotisiert. Ora stand auf Zehenspitzen, es zog sie weiter in den Kreis hinein, hatte doch auch sie einen Anteil an Jasdi, vielleicht wollte sie auch bloß noch einmal seine Hand berühren und sich von ihm verabschieden. Doch als sie sich zu ihm hindurchschieben wollte, schlossen sich die anderen Frauen vor ihr zusammen wie ein Leib, und Ora zog sich zurück und stellte sich beschämt wieder hinter sie.
Jemand berührte ihre Schulter. Es war Sami. Bleich und erschöpft sagte er, komm, wir sind hier fertig.
Und was ist mit ihm? fragte sie und deutete mit dem Kopf auf Jasdi.
Das geht schon in Ordnung. Sein Onkel kommt ihn hier abholen. Der nimmt ihn mit.
Und wer ist das, fragte sie und wies auf die stillende Frau.
Eine Frau. Der Arzt hat gesagt, sie solle ihn stillen. Diese Milch spuckt sein Körper nicht aus.
Gibt es hier denn einen Arzt?
Sami zeigte mit einer Bewegung der Augenbrauen auf den silberhaarigen kleinen Mann.
Was macht ein Arzt hier? Was ist das hier überhaupt?
Sami zögerte. Diese Leute, die kommen aus der ganzen Stadt für die Nacht hierher.
Warum?
Nachts ist das hier das Krankenhaus der Illegalen.
Ein Krankenhaus?
Für die Illegalen aus den besetzten Gebieten, die sich bei der Arbeit verletzt haben oder die Schläge abgekriegt haben, sagte er, und Ora dachte: Als gäbe es eine feste Anzahl von Schlägen.
Komm, wir gehn.
Aber warum hier? fragte sie.
Doch Sami war schon aus dem Zimmer und ließ sie mit dem Nachhall ihrer Frage zurück. Sie folgte ihm durch den Flur; es fiel ihr schwer, Abschied zu nehmen, nicht nur von Jasdi, sondern von diesem Ort. Von diesem im Verborgenen Gutes tuenden Gewimmel hier.
Aber auch von Jasdi, warum sollte sie es abstreiten, und von dem, was er in ihr geweckt hatte, als er sich so an sie schmiegte, als sie ihm das Erbrochene abwischte, als sie mit ihm das Blickspiel spielte, alssie ihn in ihrem Schoß tröstete, nachdem Sami ihn und sie geschlagen hatte. Sie spürte, dass diese kleinen Handlungen in ihr etwas Altes, ihr sehr Kostbares aufgeweckt hatten, das anscheinend keiner mehr brauchte und das auch sie selbst schon fast vergessen hatte.
Beinahe wollte sie umkehren, wollte sich noch einmal hineinschleichen, noch einmal die große Frau, die Jasdi stillte, anschauen, noch einmal diesen Ausdruck höchster Konzentration auf ihrem Gesicht sehen, und das leichte Zittern, das ab und zu über ihre Stirn huschte. Wie sanft sie ihm gezeigt hatte, beim Trinken nicht zu beißen, dachte Ora, mit was für einer natürlichen Mütterlichkeit, und er war doch gar nicht ihr eigener Sohn.
In der Eingangshalle waren jetzt Frauen und Kinder dabei, den Boden zu wischen, und sie erinnerte sich an etwas, was Sami ihr vor vielen Jahren einmal gesagt hatte: Niemals werde ich die Juden verstehen: Den ganzen
Weitere Kostenlose Bücher