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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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Tag über kontrolliert ihr uns überall, haltet uns an, durchsucht uns bis auf die Unterhosen, und in der Nacht, da überlasst ihr uns plötzlich die Schlüssel zu euren Restaurants, zu euren Tankstellen, Bäckereien und Supermärkten.
    Noch eine Frage, sagte sie, während sie ihm nacheilte, und die Nachbarn, die merken nichts?
    Er zuckte mit den Schultern. Nach ein, zwei Wochen merken sie bestimmt etwas.
    Und dann?
    Dann? Dann geht man woandershin. Das ist immer so.
    Sie standen draußen, Ora schaute zurück und fragte sich, ob man bei Flüchtlingen um politisches Asyl ersuchen kann, denn sie ihrerseits war bereit, sich im nächsten Monat hier zu verstecken. Die Illegale unter den Illegalen zu sein. Hier könnte sie wenigstens jemandem nutzen.
    Ofer, dachte sie, Ofer, wo bist du? Was passiert gerade mit dir?
    Woher willst du wissen, dass er dort nicht grade dem kleinen Bruder dieser Frau oder dem Sohn von diesem Arzt begegnet?
    Als sie das Auto erreichten, sprangen drei fröhliche kleine Mädchen mit Lumpen, einem kleinen Eimer und Bürsten heraus. Sie blieben an der Seite stehen, kicherten und beobachteten Ora insgeheim. Sami besah sich noch einmal den Hintersitz und seufzte. Ora setzte sich neben ihn.
    Sami ließ den Wagen nicht an. Er spielte mit seinem schweren Schlüsselbund. Ora wartete. Er drehte sich, hinter dem Steuer eingezwängt, ganz zu ihr. Selbst wenn du mir verzeihst, weil ich dich geschlagen habe, ich kann mir das nicht verzeihen. Ich könnte mir dafür die Hand abhacken.
    Fahr los, sagte sie müde, ich werde erwartet.
    Moment noch, sagte Sami, ich bitte dich sehr.
    Was willst du?
    Ihrer beider Augen rannten voreinander hin und her, wie angekettete Hunde auf beiden Seiten eines Zauns. Nette, vertraute, sogar geliebte Gesichter waren auf einmal völlig fremd. So fremd, dass du dir gar nicht die Mühe machen willst, sie zu deuten, dachte sie, und sie dir anzueignen.
    Sami schaute einen Moment weg, schluckte und sagte: Dass bloß der Herr Ilan nichts davon erfährt.
    Der Gestank des Erbrochenen stand noch immer im Wagen, und Ora dachte sich, wie doch alles zusammenpasst. Auch der »Herr«, den er Ilans Namen plötzlich vorangestellt hat. Herr Ilan und Frau Ora. Sie hielt einen Moment inne. Tatsächlich hatte sie auf so eine Bitte schon gewartet und mit sich selbst auch bereits den Preis ausgehandelt, den sie im Gegenzug verlangen würde. Ilan wäre stolz auf mich, dachte sie bitter und sagte, jetzt fahr los.
    Aber … Aber was meinst du …
    Fahr schon, befahl sie und staunte über ein Beben, das ihm gegenüber noch nie in ihr aufgekommen war; es war die Süße der Herrschaft und der Macht. Eine kleines, angenehmes Aufflackern von Willkür: Fahr erst mal, dann sehen wir schon.

Das erste Tageslicht beginnt zu schimmern, sie liegen am Rand eines Feldes, so weit das Auge reicht, entrollen sich die verschiedensten Grüntöne. Sie erwachen aus einem leichten Schlaf, letzte Traumweben ziehen vorüber, auf der Welt nur er und sie, sonst keiner; der Duft des ersten Schöpfungstages steigt von der Erde auf, die Luft summt von winzigen Geschöpfen, noch ist das Laken der Morgendämmerung straff ausgespannt, durchsichtig und feucht vom Tau. In ihrer beider Augen steigt ein leises Lächeln auf. Es ist das Lächeln noch vor der Angst. Noch bevor sie sie selbst sind.
    Dann stellte Avrams Blick scharf: Ora saß ihm gegenüber, an einen riesigen Rucksack gelehnt, und hinter ihr ein Feld, ein Hain, ein Berg. Mit überraschender Schnelligkeit kam er auf die Beine. Was ist das hier? Natur, sagte Ora, zuckte mit den Schultern und brummte, irgendwo in Galiläa, was weiß ich. Galiläa?! Sein Gesicht rundete sich zu einem endlosen Staunen. Wo bin ich? flüsterte er, und Ora sagte, da, wo der Typ uns in der Nacht rausgeschmissen hat.
    Avram fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, rieb, rubbelte, drückte fest, warf seinen großen Kopf hin und her: Wer hat uns rausgeschmissen? Der Taxifahrer? Der Araber?
    Ja, der Araber. Sie streckte ihm die Hand entgegen, wollte, dass er ihr beim Aufstehen half, doch er schien ihre Geste nicht zu verstehen.
    Ihr habt euch angeschrien, erinnerte er sich. Ich habe geschlafen, du hast auch geschrien, nicht wahr?
    Vergiss es, das ist jetzt nicht wichtig. Sie stand seufzend auf, begegnete feindlichen Gelenken und schadenfrohen Gliedern. Ihr habt ja recht, dachte sie, und ging ihr Sündenregister Punkt für Punkt durch: Sie hatte Avram auf ihrem armen Rücken ganze vier Stockwerke

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