Eine Frau flieht vor einer Nachricht
neue Brille, die er noch nicht kannte, hatte sieplötzlich abgenommen –, wirkte er im Dunkeln wie ein Koloss von gewaltiger Breite, so dass sie einen Moment zweifelte, ob er es war, und zögernd seinen Namen sagte, und er schwieg, und sie sagte, hier bin ich, suchte noch mehr Wörter, um den Abgrund zu füllen, der sich in ihrem Magen auftat. Die Dunkelheit in der Wohnung hinter ihm und das Gefühl, dass er von dort wie ein Bär aus seiner Höhle aufgetaucht war, machten ihr Angst. Sie nahm ihren Mut zusammen, streckte die Hand in seine Wohnung, tastete die Wand entlang und fand den Schalter. Trübes gelbes Licht überflutete sie beide, und schon tauschten ihre Blicke erbarmungslose Informationen aus.
Sie hatte sich insgesamt besser gehalten. Ihr sehr kurz geschnittenes gelocktes Haar war fast ganz silbern, doch ihr Gesichtsausdruck, noch immer offen und arglos, strebte ihm entgegen, das spürte er sogar im Zustand seiner Dumpfheit, und ihre großen braunen Augen drangen auch heute noch mit einer ernsten Frage in ihn. Dennoch, sah er, etwas in ihr war vertrocknet und abgestumpft; ein paar mehr haarfeine Linien um die Lippen, wie Vogelspuren im Sand, und in der Art, wie sie dastand, spürte er, in ihr war etwas verloschen: ihr halsstarriger Wagemut und dieses Fohlenhafte, das sie immer an sich gehabt hatte. Auch der gerne lachende, großzügige Mund, Oras großer Mund, schien ihm jetzt skeptisch und spannungslos.
Er hatte in diesen drei Jahren fast alle Haare verloren, sah Ora, sein Gesicht mit dem Einwochenbart war aufgequollen und wie verschlossen. Seine blauen Augen, bei deren Anblick sie früher einen trockenen Mund bekommen hatte, wirkten trüb, gleichsam geschrumpft und ins Gesicht eingesunken. Noch immer bewegte er sich nicht, versperrte mit seinem Körper und den dicken, etwas abstehenden Pinguinarmen die Tür. In einem verwaschenen, an den Nähten aufplatzenden T-Shirt stand er vor ihr, brummte etwas und biss sich mit so ärgerlicher Nervosität auf die Lippen, dass sie ihn ausdrücklich fragen musste: Lässt du mich nicht rein? Da wich er zurück, schlurfte barfuß in die Wohnung und schimpfte dabei vor sich hin. Sie schloss die Tür und trat in einen Geruch, der eine Sphäre für sich bildete. Als hätte man ihr eine dicke Decke mit vielen Falten übergeworfen. Ein Geruch von Kofferinhalt, verschlossenen Schubladen, ungelüftetem Bettzeug, unter dem Bett liegenden Socken und Staubflusen.
Hier waren sie – die schwere Anrichte mit dem abgeblätterten Furnier, der ausgefranste, durchgetretene Teppich, die schockierend roten Sessel, deren Polsterstoff schon vor fünfunddreißig Jahren durchgesessen und eingerissen war –, die Möbel seiner Mutter, sein einziger Besitz, mit dem er noch immer von einer Wohnung in die nächste umzog. Wo bist du so lange geblieben, schimpfte er, du hast gesagt, eine Stunde.
Sofort knallte sie ihm ihren Vorschlag hin, schleuderte ihn mit lauter, angespannter Stimme Avram entgegen, provozierend und gleichzeitig verlegen, wie eine, die genau wusste, wie abwegig der Vorschlag war, die erstmal Land gewinnen musste, einen Pflock einschlagen. Danach könne man dann weitersehen. Doch er schien sie überhaupt nicht zu hören. Er schaute sie auch nicht an. Mit stockenden Bewegungen wiegte er den auf die Brust gesunkenen Kopf. Warte, sagte sie, sag noch nicht nein, denk einen Moment nach. Er hob den Kopf zu ihr, alle seine Bewegungen waren sehr langsam. Im Licht der nackten Glühbirne sah sie wieder, was ihm die letzten Jahre angetan hatten.
Es tut mir aufrichtig leid, sagte er schwerfällig, aber ich kann jetzt nicht. Vielleicht ein andermal.
Wäre es nicht so traurig gewesen, sie hätte schallend gelacht. Es tut mir aufrichtig leid, sagte er zu ihr, wie ein Bettler in der Gosse, der, wenn er aus einer Blechbüchse Tee trinkt, den kleinen Finger abspreizt.
Avram. Ich …
Ora, nein.
Auch so kurze Sätze waren ihm wohl zu schwer. Und vielleicht war es auch der Geschmack ihres Namens in seinem Mund. Auf einen Schlag wurden seine Augen rot; es sah aus, als tauche er noch tiefer in seinen Körper. Hör mich an, schimpfte Ora mit neuem Nachdruck, den sie während des Gesprächs mit Sami erworben hatte, ich kann dich zu nichts zwingen, aber hör mich erst bis zu Ende an, dann kannst du entscheiden: Ich bin einfach geflohen, verstehst du? Ich bin nicht in der Lage, dazusitzen und zu warten, bis sie kommen.
Bis wer kommt?
Sie, sagte Ora, schaute ihm kurz in die Augen und sah, dass er
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