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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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hinuntergeschleppt, dann der Albtraum der nächtlichen Taxifahrt und das mondsüchtige Herumirren auf diesem Feld, da war sie ein paarmalgestolpert und gefallen, und schließlich das Zusammenbrechen hier am Rand des Feldes und das Schlafen auf der Erde, wenn man das Schlaf nennen konnte.
    Das ist nichts mehr für mein Alter, dachte sie.
    Diese Tablette, die haut einen um, murmelte Avram, dieses Prodormin. Ich bin daran nicht gewöhnt. Ich habe gar nichts machen können.
    Du hast genug gemacht, seufzte sie im Stillen, und laut sagte sie, wenn du wüsstest, was für einen Tag ich mit dem duchgemacht habe.
    Aber warum hat er uns ausgerechnet hierher gefahren? fragte Avram noch einmal verzweifelt, als verstehe er erst allmählich, was man ihm angetan hatte, und was jetzt? Was machen wir jetzt, Ora? Mit jeder Minute sammelten sich mehr Ängste in ihm; sie fanden schon keinen Platz mehr in seinem Körper.
    Ora klopfte sich auf den Hintern, schüttelte Erde und trockene Blätter ab. Ein Kaffee würde jetzt helfen, dachte sie und murmelte Kaffee, Kaffee, um die Gedanken zum Schweigen zu bringen, die wie verrückt in ihr herumgackerten, was mach ich jetzt mit ihm, was habe ich mir dabei gedacht, als ich ihn hierher mitgeschleppt habe?
    Jetzt gehen wir, beschloss sie, und wagte es nicht, ihn anzuschauen.
    Warum gehen? Wohin? Ora! Wohin sollen wir denn gehen?
    Ich schlage vor, sagte sie und traute ihren Ohren kaum, wir nehmen die Rucksäcke und laufen ein bisschen. Komm, wir gehn. Mal sehen, wo wir überhaupt sind.
    Avram starrte sie ausdruckslos an. Ich muss bei mir zu Hause sein, sagte er langsam, als erkläre er einem Schwachsinnigen die einfachsten Tatsachen des Lebens.
    Ora schnallte sich den Rucksack auf den Rücken, geriet ein bisschen ins Wanken und wartete. Avram rührte sich nicht. Die Ärmel seines Hemdes bebten. Das ist deiner, sagte Ora und zeigte auf den anderen Rucksack. Der blaue. Wieso meiner? fragte er und schreckte zurück, als wäre der Rucksack ein hinterlistiges Tier, das ihn gleich anfallen würde. Der gehört mir nicht, murmelte er, den kenn ich gar nicht.
    Das ist deiner, wiederholte sie, komm, lass uns losgehn. Reden könnenwir unterwegs. Nein, beharrte Avram, sein schütterer Bart sträubte sich etwas, ich geh hier nicht weg. Erst erklärst du mir, was … Unterwegs, unterbrach ihn Ora und marschierte los, mit verkrampften Schultern, als führe sie ein unerfahrener Puppenspieler an Fäden, ich erzähl dir unterwegs, hier können wir nicht bleiben. Warum nicht, beharrte Avram. Das darf ich nicht, sagte sie ganz schlicht, und als sie das sagte, wusste sie, sie hatte recht, dies war das Gesetz, nach dem sie angetreten war: Nicht zu lange am selben Ort zu verweilen, kein ruhendes Ziel zu bieten – weder Menschen noch Gedanken.
    Entsetzt sah er, wie sie sich in Richtung Weg entfernte. Sie wird gleich umkehren, dachte er, sie kommt schon wieder. Sie wird mich nicht so zurücklassen. Das traut sie sich nicht. Ora blieb nicht stehen und schaute sich auch nicht um. Sein Mund zitterte von der gewaltigen Wut und der Kränkung. Plötzlich stampfte er auf, stieß einen kurzen, bitteren Schrei aus, vielleicht ihren Namen, vielleicht Arschloch und fuck-you und was-glaubst-du-eigentlich und du-spinnst-ja, und Mama-warte-doch, alles in einem Atemzug. Ora zuckte zusammen, ging aber weiter. Kraftlos hob Avram den Rucksack, nahm ihn auf die linke Schulter, kickte mit dem Fuß gegen die Erde und begann, ihr hinterherzugehen.
    Der Weg führte durch Felder und Plantagen. Pappeln schimmerten silbern, an den Wegrändern richtete sich der Senf duftend in gelben Büscheln auf. Schön ist es hier, dachte sie beim Gehen. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war und wohin sie ging. Hinter sich hörte sie seine Schritte, seinen stammelnden Gang, und schaute sich um: Verloren und erschreckt tastete er sich durch den weiten Raum. Er bewegt sich im Licht wie ich mich im Dunkeln, dachte sie und erinnerte sich, wie sie ihn am Abend gesehen hatte, einen langsamen, gebeugten Schatten in der Tiefe seiner dunklen Wohnung.
    Dass er dort wohl kein Licht anmachte, hatte sie begriffen, als er ihr nach minutenlangem Klopfen und Gegen-die-Tür-Treten endlich öffnete. Die Klingel war aus der Halterung gerissen. Im Treppenhaus funktionierte keine einzige Glühbirne. Vier Stockwerke hatte sie sich an löchrigen Wänden und einem speckigen Steingeländer durch verschiedene Wolken von Gestank nach oben getastet. Als er ihr schließlich aufmachte – ihre

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