Eine Frau flieht vor einer Nachricht
sein und auf Ordnung und Sauberkeit zu achten. Sie roch Kinderschweiß und den fernen Gestank von Umkleideräumen, aber viel stärker war der Gestank des Erbrochenen auf ihren Kleidern. Wie sollte sie jetzt Sami und Jasdi finden, fragte sie sich, hatte aber Angst, sie zu rufen. Vorsichtig ging sie mit kleinen Schritten durchs Dunkel, bis sie einen der dünnen runden Pfeiler in der Mitte des Raums erreichte und stehen blieb. Ihr Blick schweifte über die Wände rundherum. Sie sah Fotos mit Gesichtern, die sie nicht erkennen konnte, vielleicht Herzl und Ben-Gurion, vielleicht auch der Ministerpräsident und der Generalstabschef. In der Ecke ihr gegenüber ein kleines Denkmal aus aufeinandergehäuften Steinen mit einem großen Foto, vielleicht von Jitzchak Rabin, und an der Wand darüber schwarze Metallbuchstaben. Ora ging langsam um die Säule herum, ließ aber eine Hand darauf liegen. Diese Kreisbewegung weckte in ihr das süße Schwindelgefühl mit dem leichten Prickeln glühender Asche in den Fingerspitzen, das sie als kleines Mädchen so gemocht hatte.
Als hätte sie sie aus der Kreisbewegung herausgeschält, erschienen ihr gegenüber Schemen von Männern, Frauen und Kindern, schweigend, dem Schicksal ergeben, in Lumpen gekleidet und mit der Asche des Flüchtlingsdaseins bestreut. Sie standen in einiger Entfernung an den Wänden und betrachteten sie. Ora erstarrte. Sie kommen zurück, dachte sie entsetzt. Einen irreführenden Augenblick lang meinte sie, sie seien wirklich da, durch ihre Kreisbewegung sei der Albtraum, der immerwieder irgendwo aufflackerte, wahr geworden. Eine junge Frau löste sich aus dem Bild, kam auf sie zu und sagte in gebrochenem Hebräisch, Sami habe gesagt, sie könne ihre Kleider in der Toilette waschen.
Ora folgte ihr. In den Fluren rumorten Schatten, und sie hörte rennende Schritte. Verschwommene Gestalten huschten vor ihren Augen vorbei. Nur selten war ein Wort zu hören. Die Frau zeigte ihr wortlos die Mädchentoilette. Ora ging hinein, hatte verstanden, dass sie kein Licht machen durfte, dass der ganze Ort im Dunkeln bleiben musste. In einer Kabine, deren Tür ausgehängt war, setzte sie sich auf eine niedrige Kloschüssel und pinkelte. Danach wusch sie sich im Waschbecken Gesicht und Haare, kratzte, so gut es ging, das Erbrochene von den Kleidern und ließ sich kaltes Wasser über den schmerzenden Arm laufen. Als sie fertig war, stützte sie sich mit durchgedrückten Armen auf die im fahlen Licht der Straßenlaternen glänzende Nirostafläche, schloss die Augen und gab sich ihrer großen Müdigkeit hin, doch mit der Entspannung kam auch der schmerzhafte Stich des Schreckens wieder, als wäre sie beim Wacheschieben eingeschlafen.
Was habe ich getan.
Ich habe Ofer zum Krieg gebracht.
Ich selber habe ihn zum Krieg gebracht.
Und wenn ihm was passiert?
Und wenn ich ihn heute das letzte Mal berührt habe?
Wie ich zuletzt, als ich ihn küsste, seine Wange an der zarten Stelle, wo er keine Bartstoppeln hat, berührt habe.
Ich habe ihn dorthin gebracht.
Ich habe ihn nicht aufgehalten. Hab es noch nicht einmal versucht.
Ich habe ein Taxi bestellt, und wir sind gefahren.
Zweieinhalb Stunden waren wir unterwegs, und ich habe noch nicht mal den Versuch gemacht.
Ich habe ihn dort zurückgelassen.
Ich habe ihn denen überlassen.
Mit eigenen Händen. Ich selbst!
Plötzlich stockte ihr Atem. Sie hatte Angst, sich zu bewegen, war wie gelähmt. Es war die Ahnung eines scharfen, greifbaren Wissens.
Pass gut auf dich auf, sagte sie zu ihm, ohne die Lippen zu bewegen, und schau dich auch immer um.
Da begann ihr Körper, sich von alleine zu bewegen. Eine feine, kaum spürbare Bewegung. Die Schultern, das Becken, ein Hüftschwung. Sie hatte sich nicht mehr unter Kontrolle, spürte nur, dass ihre Glieder Ofer vormachten, wie er sich bewegen musste, um den Gefahren und Fallen dort zu entgehen. Diese merkwürdigen ungesteuerten Bewegungen dauerten ein paar Sekunden, dann beruhigte sich ihr Körper, kehrte unter ihren Befehl zurück, und Ora atmete tief ein und wusste, alles war in Ordnung. Bis jetzt zumindest. Aj, seufzte sie zu ihrem kleinen Bauch, der sie verschwommen aus dem niedrigen Spiegel anschaute.
Manchmal hab ich den Eindruck, dass ich mich fast an jeden Augenblick mit ihm erinnere, seit seiner Geburt, sagte sie zu ihrem Bauch im Spiegel, und manchmal sehe ich, dass mir ganze Zeitabschnitte mit ihm verloren gegangen sind. Meine Freundin Ariela hatte eine Frühgeburt im sechsten
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