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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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Monat, sagte Ora zu einer älteren, beleibten Frau mit geblümtem Kopftuch, die in die Toilette gekommen war und still an der Seite stand, Ora mit guten Augen anschaute und anscheinend abwartete, bis sie sich beruhigte.
    Man hat ihr eine Spritze gegeben, erzählte Ora leise weiter, die sollte den Embryo noch im Bauch umbringen. Der war nicht in Ordnung, mongoloid, und sie und ihr Mann waren zu dem Schluss gekommen, dass sie nicht in der Lage seien, so ein Kind großzuziehen. Aber das Kind kam lebendig zur Welt. Verstehen Sie das? Verstehen Sie mich? Die Frau nickte, und Ora sprach weiter: Sie haben sich wohl in der Dosierung vertan, und meine Freundin bat darum, das Kind zu halten, solange es noch lebte. Sie saß auf dem Bett, ihr Mann war rausgegangen, der hat das nicht ausgehalten. Ora warf der Frau einen Blick zu und meinte, ein Aufflackern von Verständnis und Mitgefühl zu erkennen. Eine Viertelstunde hat es in ihren Armen noch gelebt, sie hat die ganze Zeit mit ihm geredet, es war ein Junge, sie hat ihn umarmt und überall geküsst, jeden Finger und jeden Fingernagel hat sie geküsst, und sie erzählt immer, er habe schon wie ein ganz gesundes Kind ausgesehen, nur eben winzig klein und durchsichtig, und er habe sich ein bisschen bewegt und verschiedene Gesichter gezogen, richtig wie ein Baby, auch die Hände und den Mund habe er bewegt, aber keinen Laut von sich gegeben, erzählte Ora der Frau, die mit verschränkten Armen abwartete. Ganz langsam ist er dann einfach ausgegangen, sagte sie,verloschen, wie eine Kerze, in völliger Stille, ohne großes Theater, hat ein bisschen gezuckt und sich eingerollt, und das war’s. Daran erinnert sich meine Freundin mehr als an ihre drei Geburten vor und nach ihm, und sie sagt immer, in der kurzen Zeit, die sie mit ihm hatte, habe sie versucht, ihm so viel Leben wie möglich und ihre ganze Liebe zu geben, obwohl sie es im Grunde gewesen war, die ihn getötet hat oder zumindest an der Entscheidung, ihn zu töten, beteiligt gewesen war, sagte Ora, fuhr sich mit den Händen fest über den Kopf, über die Schläfen, drückte ihre Wangen zusammen, und für einen Moment öffnete sich ihr Mund kreisrund zu einem stummen Schrei.
    Die Frau senkte den Kopf und schwieg. Jetzt bemerkte Ora, sie war sehr alt, ihr Gesicht war von tiefen Falten zerfurcht und mit Tätowierungen übersät.
    Was kann ich da klagen, sagte Ora später mit brüchiger Stimme, ich habe meinen Sohn einundzwanzig Jahre lang gehalten, wachad wa-aaschrin sana , erklärte sie der Frau in zögerndem Arabisch, das sie noch von der Schule konnte, nur sind die so schnell vorbeigegangen, ich hab das Gefühl, ich habe fast gar nichts mit ihm geschafft, erst jetzt, nachdem er mit der Armee fertig ist, hätten wir wirklich anfangen können, und hier brach ihre Stimme, doch sie fing sich gleich wieder, kommen Sie, gehn wir hier raus, und bringen Sie mich bitte zu Sami.
    Es war nicht leicht, Sami zu finden. Die alte Frau kannte ihn nicht, und es sah aus, als habe sie auch überhaupt nicht verstanden, was Ora wollte. Doch führte sie sie bereitwillig von einem Zimmer zum nächsten und zeigte hinein, und Ora schaute in die dunklen Klassenzimmer; in einigen hielten sich Leute auf, nicht viele, hier drei, dort fünf, Kinder und Erwachsene, die um einen Schultisch saßen und sich flüsternd unterhielten, oder sie hockten auf dem Boden und wärmten sich auf einem kleinen Gaskocher ein Essen, oder sie schliefen in Kleidern auf Tischen und zusammengerückten Stühlen. In einem Zimmer sah sie jemanden auf einer langen Bank liegen und Leute, die sich lautlos an ihm zu schaffen machten. Sie ging weiter durch die Klassenzimmer. Anderswo kniete ein Mann auf dem Boden und verband einem Erwachsenen, der vor ihm auf dem Stuhl saß, das Bein. Eine junge Frau säuberte eine Wunde auf dem freien Oberkörper eines Mannes mit verzerrtemGesicht. Aus anderen Zimmern hörte sie unterdrücktes Stöhnen und beruhigendes Murmeln. Scharfer Jodgeruch stand in der Luft.
    Und was passiert am Morgen? fragte Ora, als sie auf den Flur hinaustrat.
    Am Morgen, wiederholte die alte Frau auf Hebräisch und fuhr mit einem breiten Lächeln auf Arabisch fort: Am Morgen kulhum mafisch ! Am Morgen sind alle längst wieder weg!
    Mit den Händen machte sie die Bewegung einer zerplatzenden Blase.
    In einem Zimmer fanden sie Sami und Jasdi. Auch hier gab es nur das Licht der Laternen von draußen, und es herrschte völlige Stille. Ora blieb in der Tür stehen und

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