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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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und mich alleine lassen. Warum ist sie überhaupt plötzlich hier?
    Etwas rumorte in einer Ecke ihres Gehirns. Was hatte er gemeint, dass er in ein paar Minuten schon nicht mehr … Avram zog ein schiefes Lächeln, seine schweren, geschwollenen Lider öffneten sich nur noch mit Mühe und ließen rote Sicheln erkennen: Ich habe schon eine Tablette genommen. In einer Minute schlafe ich wie ein Toter. Bis zum Morgen werd ich nicht – Aber du wusstest doch, dass ich komme! Wenn du früher gekommen wärst … Seine Stimme dickte schon ein: Warum bist du nicht früher gekommen? Warum warst du nicht da? Sie eilte in das kleine Badezimmer. Auch die Birne über dem Spiegel war durchgebrannt. Sie bewegte die Finger wirr über dem Waschbecken, als wolle sie Lichtschnüre aus dem Wohnzimmer zu sich ziehen. Rost hatte sich an den Wasserhähnen festgesetzt, im Abfluss des Waschbeckens und um die Schrauben, mit denen die Regalbretter an den rosafarbenen Kacheln befestigt waren. Zu ihrer Überraschung lagen nur wenige Medikamente auf den Regalbrettern. Sie kam durcheinander: Sie erinnerte sich an die Medikamentenvorräte, die er früher hatte, von denen er ihr bei ihren seltenen Treffen, bevor Ofer eingezogen wurde, auch detailliert erzählt hatte: Prodormin, Zolpidem, Zolpiclon, Ximovan, hatte er geschimpft, Namen wie die Klänge auf einem Kinderxylophon. Jetzt lagen hier nur noch Schachteln von Antihistaminika, wohl gegen seine Frühlingsallergien, ein paar Valium und einzelne Still-Nox, vor allem aber pflanzliche Schlafmittel. Das ist gut, dachte sie, er hat sich wohl irgendwie entgiftet, wenigstens eine gute Sache. Sie stopfte die Tabletten in eine Plastiktüte, die sie im Kasten mit der schmutzigen Wäsche gefunden hatte, ging hinaus und noch einmal zurück: Auf einem gesonderten Regalbrett an der Seite lagen ein riesiger silberner Ohrring, wie der Sporn eines Reiters, ein Deodorant mit Vanillegeruch, eine Haarbürste mit einem Knäuel kurzer violetter Haare.
    Danach schaute sie in die Speisekammer, sah Pappkartons voll leerer Bierflaschen. Sie nahm an, dass er mit dem Flaschenpfand einen Teil seines Geldes verdiente. Als sie zu ihm zurückkam, fand sie ihn schonin tiefem Schlaf, die Arme und Beine von sich gestreckt, der Mund offen. Sie stützte die Hände in die Hüften. Was tun? Erst jetzt bemerkte sie die großen Bilder, die mit Kohle an die Wände gezeichnet waren: Götter oder prophetenähnliche Gestalten, eine Frau stillt einen Kranich, dessen menschliche Augen mit langen Wimpern geschmückt sind, Babys wie schwebende Lämmchen, deren feines Haar sich wie ein Schein um ihre Köpfe legt. Einer der Propheten trug Avrams Züge. Die stillende Frau war im Grunde ein junges Mädchen mit einem zarten, lieben Gesicht und einer Mohawk-Frisur. An einer Wand stand ein improvisierter Arbeitstisch – eine Holztür auf Böcken –, darauf aufgehäuft kleinere und größere Schrottteile, Werkzeuge, Tuben mit Kleber, Scheren, Schrauben, rostige Konservendosen, alte Wasserhähne, Uhren in unterschiedlichem Zerlegungszustand, Bündel alter Schlüssel, haufenweise abgegriffene Bücher. Sie schlug ein altes Fotoalbum auf, das voller Stockflecken und an den Rändern zerrissen war, Geruch von Moder schlug ihr entgegen. Es war leer. Bis auf die Klebeeckchen zum Befestigen der Fotos und schräg geschriebene Bildunterschriften in einer unbekannten Handschrift: Papa und ich, Odessa, Winter 36; Oma, Mama und Avigail (im Bauch) 1949; und jetzt ratet mal, wer dieses Jahr die Estherkönigin war?
    Avram stöhnte, schlug die Augen auf und sah sie vor sich. Du bist da, murmelte er, spürte, wie sich ihre Fingernägel in seine Handgelenke bohrten, und versuchte zu verstehen, wie das alles zusammenhing. Er schüttelte den Kopf, morgen, komm morgen, es wird schon alles gut werden. Ihr Gesicht kam ihm wieder sehr nah. Er begann zu schwitzen. Sie schrie ihm ins Ohr: Kneif jetzt nicht. Die Stimme zerfiel für ihn in leere Silben und Klänge. Sie sah, wie sich die Zunge in seinem Mund bewegte, und beugte sich wieder über ihn. Dann komm eben schlafend mit, sagte sie, komm bewusstlos, aber komm, lass mich mit dem allen nicht allein. Er schnaufte bereits mit offenem Mund, aber was ist mit Ilan, warum geht Ilan nicht mit ihr mit …
    Später, er wusste nicht, ob eine Minute oder eine ganze Stunde vergangen war, öffnete er wieder mühsam die Augen, aber sie war nicht mehr da. Einen Moment dachte er, sie sei gegangen, sie habe ihm das erlassen, und es reute ihn,

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