Eine Frau flieht vor einer Nachricht
hervor, und Ora hielt einen Schritt inne – sogar ihre Namen war er nicht bereit auszusprechen –die Kinder, betonte sie, die sind schon groß; unabhängig sind die Kinder. Die entscheiden selbst, wo und mit wem sie leben. Er warf ihr einen Blick von der Seite zu, und einen Moment lang war gleichsam die Augenhaut des Vogels zurückgeschoben, und seine Augen tauchten in ihre ein, er schaute und erkannte sie in ihren Tiefen, in ihrer Kränkung. Dann kehrte die Haut zurück und verdunkelte den Blick. In ihrer Trauer und ihrem Schmerz spürte Ora aufgewühlt: Noch gab es jemanden da drinnen bei ihm.
Bis zum Abend liefen sie so weiter, sie gingen ein bisschen und machten Pause, mieden Straßen und Menschen, aßen ab und zu von den Sachen, die Ora in ihrem Rucksack hatte, pflückten eine am Baum vergessene Grapefruit oder Orange, lasen Pekan- und Walnüsse vom Boden auf, füllten die immer wieder leeren Flaschen mit Fluss- oder Quellwasser, Avram trank ununterbrochen, Ora fast gar nicht. Sie liefen mal hierhin, mal dorthin, und sie fragte sich, ob ihm klar war, dass sie sich mit Absicht durcheinanderbrachten, um den Rückweg nicht zu finden.
Sie redeten kaum. Ora versuchte einige Male, etwas zu sagen, über die Trennung, über Ilan, über sich selbst, doch dann hob er immer beinahe flehend die Hand, er habe keine Kraft dafür, vielleicht später. Am Abend oder morgen. Besser morgen.
Avram wurde schwächer, und auch sie war eine solche Anstrengung nicht gewohnt. Er bekam oberhalb der Ferse erste Blasen und scheuerte sich zwischen den Beinen wund. Sie bot ihm Pflaster und Talkum an, doch er lehnte ab. Nachmittags schliefen sie eine Stunde im Schatten eines ausladenden Johannisbrotbaums, danach liefen sie noch ein bisschen, ruhten sich wieder aus, schliefen ein. Oras Gedanken wurden immer schwerfälliger. Vielleicht liegt es an Avram, nahm sie an: So wie er sie früher aufgeweckt und ihr Innerstes nach außen gekehrt hatte, so brachte er sie jetzt zum Verlöschen und machte sie stumpf. Gegen Abend, als sie am Rand eines Hains von Pekanbäumen auf einem Polster trockener Blätter und Nussschalen lagen, schaute sie in den Himmel, der war leer – abgesehen von zwei Hubschraubern, die schon seit ein paar Stunden sehr hoch über ihnen standen, die ganze Zeit an derselben Stelle knatterten und vermutlich beobachteten, washinter der Grenze passierte –, und sie dachte, es würde ihr eigentlich nichts ausmachen, immer weiter so dahinzukriechen, sogar einen ganzen Monat so rumzubringen, bis sie blöde wurde, aber was war mit Avram?
Vielleicht machte es ja auch ihm nichts aus, dachte sie. Womöglich tut es ihm gut, so zu streunen, keine Ahnung, was in ihm vorgeht, wie sein Leben jetzt ist und mit wem er es teilt. Und mir geht es so wirklich nicht schlecht, der Schmerz ist schwächer, stellte sie staunend fest, und sogar Ofer war in den letzten Stunden in ihr etwas ruhiger geworden. Vielleicht hatte Avram ja recht und man musste wirklich nicht über alles reden, eigentlich über gar nichts. Was gab es überhaupt noch zu sagen. Höchstens würde sie ihm, im richtigen Moment, ein wenig von Ofer erzählen, ganz vorsichtig, vielleicht würde er sich hier nicht so sehr sträuben, bloß ein paar Kleinigkeiten, die leichten, fröhlichen Dinge von Ofer, damit er zumindest in groben Zügen, in Schlagzeilen erfährt, wer Ofer ist; damit er wenigstens jetzt den Menschen ein bisschen kennenlernt, den er in die Welt gesetzt hat.
In einem kleinen Wäldchen schlugen sie zwischen Pistazien und Eichen ihre Zelte auf. Ofer hatte mit ihr zu Hause das Zeltaufbauen geübt, und zu ihrer Überraschung schaffte sie es jetzt fast problemlos. Zuerst stellte sie ihres auf, danach half sie Avram, und die Zelte sprangen sie nicht plötzlich an, wickelten sich nicht hinterlistig um sie herum, saugten sie auch nicht wie fleischfressende Pflanzen in sich hinein, wie Ofer es ihr prophezeit hatte, schließlich standen sie da, die zwei kleinen kugeligen Zelte, ihres orangefarben, seines blau, drei, vier Meter voneinander entfernt, zwei Blasen, wie kleine Raumschiffkapseln, abgeschottet – nicht nur gegen Regen, sondern auch gegeneinander –, und beide hatten winzige, von einer überdimensionalen Vorhaut aus Nylon bedeckte Fenster.
Auch jetzt öffnete Avram Ofers Rucksack nicht, noch nicht einmal die Außentaschen. Er brauche nichts zum Wechseln, sagte er, seine Sachen habe ohnehin der Fluss heute mehrmals an seinem Leib gewaschen, er könne so, wie er ist,
Weitere Kostenlose Bücher