Eine Frau in Berlin
er? Ist er bei Stalingrad geblieben?« (Viele unserer Mannen haben bei Stalingrad gekämpft, tragen dafür eine besondere Medaille am Band.) Ist ein lebendiger Mann vorhanden, den man ihnen vorführen kann (wie es die Witwe mit Herrn Pauli tut, obwohl er bloß ihr Untermieter ist und nichts weiter), so weichen sie erst mal einen Schritt zurück. An sich ist es ihnen egal, was sie kriegen, sie nehmen verheiratete Frauen genauso mit. Aber es ist ihnen lieber, wenn sie den Ehemann solange aus dem Weg bringen können, ihn wegschicken, einsperren oder so. Nicht aus Angst. Die haben schon gemerkt, daß hier so leicht kein Ehemann explodiert. Aber er stört sie, solange sie noch nicht völlig blau sind.
Übrigens wüßte ich nicht, wie ich auf diese Frage nach meinem Mann antworten sollte, selbst wenn ich wünschte, ehrlich zu sein. Ohne den Krieg wären Gerd und ich längst verheiratet. Als Gerd aber den Gestellungsbefehl erhielt, war es aus, er wollte nicht mehr. »Kriegswaisen in die Welt setzen? Nein, kommt nicht in Frage, ich bin selbst eine, ich weiß Bescheid.« Dabei blieb's bis heute. Trotzdem fühlen wir uns genauso aneinander gebunden wie ein beringtes Paar. Nur, daß ich seit über neun Wochen nichts mehr von ihm gehört habe; die letzte Post kam vom Westwall. Ich weiß kaum mehr, wie er aussieht. Alle Fotos sind mir verbombt, und das einzige übriggebliebene Bild in meiner Handtasche hab ich selbst vernichtet, wegen der Uniform. Wenn's auch bloß Unteroffizier war, ich hatte Furcht. Im ganzen Haus haben sie alles weggetan, was an Soldaten erinnert und die Russen reizen könnte. Und jeder verbrennt Bücher. Wenigstens geben die uns noch Wärme und Suppe, während sie sich in Rauch auflösen.
Kaum hatten wir unseren Malzkaffee mit Butterschnitten vom Plünderbrot verzehrt, kamen auch schon wieder Anatols Mannen aufgekreuzt, für die wir eine Art von Restaurant sind – bloß, daß die Gäste ihr Futter mitbringen. Ein guter Typ diesmal dabei, der beste, den ich bisher unter ihnen fand: Andrej, Feldwebel, von Beruf Schullehrer. Schmaler Schädel, eisblauer Blick, leise und klug. Erstes politisches Gespräch. Das ist nicht so schwierig, wie man denken sollte, da all die politischen und wirtschaftlichen Vokabeln Fremdwörter sind, unseren entsprechenden Wörtern ganz ähnlich. Andrej ist orthodoxer Marxist. Er gibt nicht Hitler persönlich die Schuld am Kriege, sondern dem Kapitalismus, der die Hitlers hervorruft und Kriegsstoff häuft. Er ist der Meinung, daß die deutsche und russische Wirtschaft einander ergänzen, daß ein Deutschland, nach sozialistischen Grundsätzen aufgebaut, Rußlands natürlicher Partner sei. Mir tat dies Gespräch, ganz abgesehen von seinem Gegenstand, den ich nicht so beherrschte wie Andrej, sehr gut – einfach weil einer von ihnen mich als gleichwertige Gesprächspartnerin behandelte, mich nicht anrührte dabei, nicht mal mit den Augen, nicht das Weibstück in mir sah wie bisher alle anderen.
In unseren Zimmern war den ganzen Vormittag über Kommen und Gehen. Andrej saß auf dem Sofa und schrieb seinen Rapport. Solange er da ist, fühlen wir uns sicher. Er brachte eine russische Armeezeitung mit, ich entzifferte die vertrauten Namen der Berliner Stadtteile. Viel ist nicht mehr deutsch von unserer Stadt.
Sonst erfüllt uns stets und ständig das Gefühl des völligen Preisgegebenseins. Sind wir allein, so schreckt uns jeder Laut, jeder Tritt. Die Witwe und ich drängen uns um Herrn Paulis Bett, wie jetzt, da ich dies schreibe. Stundenlang hocken wir in dem finsteren, eiskalten Zimmer. Iwan hat uns tief unten. Zum Teil wörtlich; denn es gibt in unserem Block noch unentdeckte Hausgemeinschaften, Familien, die seit Freitag im Keller leben und nur frühmorgens ihre Wasserholer ausschicken. Unsere Männer, so scheint es mir, müssen sich noch schmutziger fühlen als wir besudelten Frauen. In der Pumpenschlange erzählte eine Frau, wie in ihrem Keller ein Nachbar ihr zugerufen habe, als die Iwans an ihr zerrten: »Nu gehen Sie doch schon mit, Sie gefährden uns ja alle!« Kleine Fußnote zum Untergang des Abendlandes.
Immer wieder ekelt es mich in diesen Tagen vor meiner eigenen Haut. Ich mag mich nicht anrühren, kaum noch anschauen. Muß daran denken, was mir die Mutter so oft erzählt hat von dem kleinen Kind, das ich einmal war. Ein Baby so weiß und rosa, wie es stolze Eltern freut. Und als der Vater 1916 Soldat werden mußte, hat er am Bahnhof beim Abschied der Mutter noch
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