Eine Frau mit Geheimnis
vorerst konnte er nichts tun.
Irgendwo zwischen den Papieren musste Alexandrows Brief stecken. Da der Junge sich die Mühe gemacht hatte, ihm zu schreiben, sollte er wenigstens so höflich sein und diese Zeilen aufmerksam lesen.
Nachdem er den Brief gefunden hatte, lehnte er sich in seinem Sessel zurück und begann mit seiner Lektüre. Beim dritten Satz versteifte er sich. An so wundervolle Orte haben Sie mich geführt.“
War der Junge verrückt geworden? Warum brachte er solche Worte zu Papier? Welch ein Risiko … Mit beiden Händen zerknitterte Dominic den Brief. Den musste er verbrennen. Er holte tief Atem und stand auf.
Plötzlich glaubte er auf den Maskenball zurückzukehren, in den dunklen Garten. Ihr Duft … Auf dem Papier. Zitrone, mit einer ungewöhnlich intensiven Nuance. Nein, ein Irrtum war unmöglich – Alexandras Duft. Er glättete das Papier und zwang sich, die Worte erneut zu lesen. An so wundervolle Orte haben Sie mich geführt. Die Erlebnisse, die wir teilten, werde ich für immer in meinem Herzen bewahren. Nein, das konnte nicht wahr sein …
Eine innere Stimme flüsterte ihm zu, dies könnte erklären, warum Alexandra im Pulteney Hotel verschwunden war. Un möglich! Jahrelang hatte Alexandrow als Husar gedient und in zahlreichen Schlachten gekämpft. Für seine Tapferkeit vor dem Feind war er ausgezeichnet worden. Dass er eine Frau war – undenkbar!
Verwirrt setzte sich Dominic wieder an den Schreibtisch und las den Brief ein drittes Mal. Alexandrows Brief. Oder Alexandras Briefs? An so wundervolle Orte haben Sie mich ge führt. So etwas würde kein Mann einem anderen schreiben. Es sei denn, er würde unnatürliche Gefühle für ihn hegen. Lag darin die Bedeutung des Briefes? Doch es würde nicht erklären, warum Alexandra ins Pulteney gefahren war. Und den Duft ebenso wenig. Dominic atmete das Aroma wieder ein. Nein, ein Irrtum war ausgeschlossen.
Die Hände an seine Schläfen gepresst, versuchte er sich ganz genau zu entsinnen, was auf dem Maskenball geschehen war. Konzentriert suchte er nach Anhaltspunkten, die beweisen würden, dass Alexandrow und Alexandra ein und dieselbe Person waren. Natürlich. Die Namen klangen ähnlich. Doch Alexandra hatte englisch gesprochen, wie eine Einheimische. Und Alexandrow beherrschte diese Sprache nicht.
Das musste keineswegs stimmen. Alexandrow hatte behaup tet, er würde nicht englisch sprechen.
Wenn die beiden tatsächlich identisch waren, hatte Alexandra das Kostüm für den Maskenball raffiniert gewählt und sich verkleidet, ohne Verdacht zu erregen. Eine Perücke verdeckte Alexandrows kurz geschnittenes Haar, die weiße Schminke seine Haut, die Wind und Wetter gebräunt hatten. Natürlich! Die Handschuhe, die Alexandra niemals ausgezogen hatte! Kein Wunder, denn Alexandrows Hände waren ebenso gebräunt wie seine Wangen. Angesichts dieser Hände hätte ihn niemand für eine Frau gehalten.
Und dann erinnerte sich Dominic, dass sie die Handschuhe einmal ausgezogen hatte – nur ein einziges Mal, um die Verschnürungen ihres Kleides und des Korsetts zu öffnen. Da war es dunkel gewesen. Er hatte ihre Hautfarbe nicht erkennen können. Danach hatte sie die Handschuhe sofort wieder angezogen. Obwohl er das Oberteil ihres Gewandes auseinandergezogen hatte … Welch ein merkwürdiges Verhalten. Ja, so musste es sein – Alexandrow war Alexandra.
Nun war sie mit dem Zar nach Russland zurückgekehrt – zweifellos, um ihre außerordentliche Karriere als Kavallerieoffizier fortzusetzen. Warum hatte sie ein so gefährliches Leben gewählt? Das verstand Dominic nicht.
Wenn das alles tatsächlich stimmte, hatte sie einen Narren aus ihm gemacht. Und aus dem gesamten russischen Heer. Eigentlich müsste er ihr zürnen und wünschen, er könnte ihr den Hals umdrehen. Aber seltsamerweise empfand er ganz andere Emotionen, und er sehnte sich danach, sie zu umarmen, zu küssen.
Welch eine Wende … Alexandrows Tapferkeit hatte er bewundert – und Alexandras Courage war atemberaubend.
Eine erstaunliche Frau …
Dominic schenkte sich ein Glas Madeira ein. Langsam nippte er daran und genoss den köstlichen Geschmack. Was er tun würde, stand bereits fest. Wenn er beweisen wollte, dass Alexandrow tatsächlich Alexandra war, gab es nur eine einzige Möglichkeit – er musste ihr nach Russland folgen und sie mit seinen Erkenntnissen konfrontieren. Dann würde er sie zwingen, ihm die ganze Wahrheit zu gestehen. Wenn er sich irrte und Alexandrow ein Mann mit
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