Eine Frau mit Geheimnis
Und sie hat ihm beigebracht, Reel zu tanzen.“
„Dass er eine schottische Mutter hat, würde seine englischen Sprachkenntnisse erklären. Aber bist du dir wirklich sicher, Tante? Hast du dich nicht geirrt?“
„Bisher leidet mein Gehirn nicht an Altersschwäche. An der Dinnertafel saß er neben mir. Erinnerst du dich? Natürlich versuchte ich ihn auszuhorchen – insbesondere, nachdem er einige Gläser Wein getrunken hatte.“
„Alexandrow erlaubt sich immer nur ein einziges Glas. Das habe ich mehrmals festgestellt.“
„Ah …“ Sie wich seinem Blick aus. An ihrem Hals kroch zarte Röte empor. „Das wusste ich nicht. Und so nahm ich an … Leider muss ich dir etwas gestehen, Dominic. Ich vereinbarte mit Withering, er sollte das Glas des Jungen jedes Mal nachfüllen, wenn der sich abwandte. Natürlich verstohlen. Und ich muss sagen, das machte der Butler ausgezeichnet. Immer nur ein paar Tropfen. Nie genug, sodass es aufgefallen wäre. Also trank Alexandrow vielleicht … etwas mehr, als er beabsichtigt hatte.“
Nur mühsam unterdrückte er einen Fluch. „Harriet Penworthy, du bist …“
„Eine betagte Verwandte, die es nicht duldet, wenn ein Grünschnabel wie du sie beleidigt, Dominic Aikenhead. Magst du ein Duke sein oder auch nicht!“
Lachend erwiderte er: „Niemals würde ich das wagen, Tante. Ich wollte nur sagen, du bist … erfinderisch. Und ich wette, an jenem Abend hast du noch viel mehr über den jungen Alexandrow herausgefunden. Habe ich recht?“
„Vielleicht“, entgegnete sie kokett.
„Erzähl mir alles, was du erfahren hast. Danach werde ich deine Fähigkeiten überall in den höchsten Tönen loben.“
Nun erlosch das mutwillige Funkeln in ihren scharfen alten Augen. Forschend starrte sie ihn an. „Das bedeutet dir wirklich sehr viel, Dominic. Nicht wahr?“
In Friedenszeiten war der Militärdienst furchtbar langweilig – endlose Stunden auf der Wache, viel zu viele Inspektionen. Alex hätte es vorgezogen, mit ihren Männern zu exerzieren. Mit Lanzen und Säbeln zu üben und zu reiten – das war wenigstens nützlich. Umso überflüssiger fand sie den richtigen Sitz der Feder auf ihrem Tschako. An diesem Tag, zum ersten Mal seit einer Woche, war sie außer Dienst. Am liebsten wäre sie auf Pegasus durch die Landschaft rings um St. Petersburg geritten, um die Stille und das schöne Sommerwetter zu genießen. Bedauerlicherweise wurde auch ihre Freizeit reglementiert. Ihr Oberst hatte sie ersucht, den Tag mit seiner Familie zu verbringen. Zweifellos meinte er das gut. Aber es entsprach nicht Alex’ Wünschen.
Eine Zeit lang stand sie vor dem Spiegel und inspizierte jedes winzige Detail ihrer Galauniform. Ja, sie sah wirklich wie ein Mann aus. Sie begann ihre Handschuhe anzuziehen.
Handschuhe! Alex ließ sie fallen und öffnete die oberste Schublade ihrer Kommode. Da lagen sie immer noch, in Seidenpapier gehüllt, unter der gestapelten Männerwäsche.
Plötzlich war es ihr egal, dass sie zu spät im Haus des Obersts eintreffen würde. Sie nahm das Päckchen aus dem Fach. Vorsichtig wickelte sie die Handschuhe aus hellgrünem Glacéleder aus. Die konnte sie nicht anziehen, ohne aus ihrem Uniformrock zu schlüpfen. Stattdessen strich sie behutsam darüber. Dann schaute sie wieder in den Spiegel und holte tief Atem. Beinahe glaubte sie, die Handschuhe würden Dominics Geruch verströmen. Wieder einmal stürmten Erinnerungen auf sie ein. Seine Lippen an der Innenseite ihres Handgelenks, ihre Finger in seinem Haar …
Als es an der Tür klopfte, zuckte sie zusammen.
„Ja?“
„Die Kutsche des Obersts ist vorgefahren, Herr Hauptmann.“
„Danke, ich komme gleich!“, rief sie, wickelte die Handschuhe wieder in das Seidenpapier und schob sie ins Versteck am Boden des Schubfachs. Hätte sie doch auch das Kleid und die Tanzschuhe behalten … Aber ihre Kameraden hatten das Kostüm und die Schuhe zurückgefordert, um sie zu verkaufen. Und so besaß sie nur ein einziges Souvenir – die Handschuhe aus apfelgrünem Glacéleder.
„Schauen Sie doch, Alexej Iwanowitsch! Ist das nicht prachtvoll?“ Die ältere Tochter des Obersts zeigte auf ein großes, mit kostbaren Steinen besetztes goldenes Ornament. „Ist das nicht interessanter als die vielen Bilder, die man dauernd anstarren muss? Hat es denn einen Sinn, die Eremitage zu besuchen und einfach nur die Bilder zu betrachten? Um alle zu besichtigen, würde man Monate brauchen. Und sie sind so langweilig!“
Alex musterte das
Weitere Kostenlose Bücher