Eine Frau mit Geheimnis
aus seinem Sessel. „Heute werde ich früh ins Bett sinken. Ich bin furchtbar müde. Schätzungsweise liegt’s an der Bewegung in der frischen Luft. Gute Nacht, Dominic.“ Er ging zur Tür, die sich öffnete, bevor er die Klinke ergreifen konnte.
„Guten Abend, Dominic, Leo.“
„Tante Harriet!“, rief Dominic. „Ich dachte, ihr hättet euch schon vor Stunden zurückgezogen, du und Mama.“
„In meinem Alter braucht man nicht mehr viel Schlaf. Aber wie ich sehe, ist dein Bruder darauf angewiesen.“ Zärtlich tätschelte sie Leos Wange, als wäre er noch ein Kind. „Angenehme Nachtruhe, mein Junge.“
„Keine Bange, Tante, ich bin schlau genug, um einen Wink mit dem Zaunpfahl zu verstehen. Bis morgen.“ Lautlos schloss Leo die Tür hinter sich.
Dominic rückte einen Sessel für seine Tante zurecht. „Darf ich dir etwas zu trinken anbieten?“
„Ja, ich hätte gern einen Brandy. Wenn ihr zwei die Karaffe nicht geleert habt.“
Um sein Lächeln zu verbergen, kehrte er ihr den Rücken und goss ein großzügiges Quantum in einen Schwenker. Warum war sie zu ihm gekommen? Was bezweckte sie? Wollte sie Informationen sammeln? Unglücklicherweise kannte sie ihn sehr gut. Und im Gegensatz zu Leo besaß sie kein diplomatisches Geschick. Wenn sie irgendwelche Heimlichkeiten witterte, würde sie weder ruhen noch rasten, bis sie der Sache auf den Grund gegangen war. Wie auch immer, er durfte Castlereaghs Geheimnisse nicht verraten, und seine eigenen würde er ihr gewiss nicht anvertrauen.
„Ich habe gehört, du würdest nach Russland fahren“, begann sie. „Stimmt das?“
„Ja. Aber ich kann erst abreisen, wenn ich die offiziellen Papiere erhalten habe.“
„Warum nach Russland?“
Typisch Tante Harriet, so eine unverblümte Frage … „ Weil ich meine Pflicht erfüllen muss“, antwortete er nach einer kurzen Pause. „Mehr kann ich nicht sagen, nicht einmal dir.“
„Hmpf! Hast du Angst, ich würde was ausplaudern? Nein, schüttle nicht den Kopf, Dominic. Was du denkst, weiß ich sehr gut. Und ich verstehe, dass du deine geheimen Missionen nicht mit mir erörtern darfst.“ Sie nahm einen großen Schluck Brandy. Lächelnd blickte sie in ihr Glas. Dann musterte sie wieder ihren Neffen. „In Russland wirst du sicher den jungen Alexandrow wiedersehen, nicht wahr?“ Ehe er zu Wort kam, fügte sie hinzu. „Diesen Gentleman fand ich sehr interessant. Auch ein Mann mit Geheimnissen. So wie du, Dominic. Übrigens, ich war kein bisschen erstaunt, weil er sich geweigert hat, länger in London zu bleiben.“
Nun versuchte sie ihn aus der Reserve zu locken. Irgendetwas wusste sie. Da war er sich fast sicher. „Worauf willst du hinaus, Tante Harriet? Ich nahm an, du hättest nur einen einzigen Abend in Alexandrows Gesellschaft verbracht.“
„Aye, so war es.“ Mrs. Penworthy leerte ihr Glas und hielt es ihm hin, um es noch einmal füllen zu lassen.
Gehorsam holte er die Karaffe. Den Stöpsel in der Hand, hielt er inne. „Was glaubst du, warum er meine Einladung abgelehnt hat?“
„Mein Glas ist leer, Dominic.“
Resignierend schenkte er seiner Tante noch einen Brandy ein. Dann nahm er ihr gegenüber Platz und wartete.
„Also gut. Aber was ich zu sagen habe, wird dir vielleicht missfallen. Ich vermute, er wollte nicht hierbleiben, weil er fürchtete, seine Geheimnisse könnten ans Licht kommen.“
Genau denselben Schluss hatte auch er selbst gezogen. Wusste sie mehr als er? Jede Information über Alexandra war wichtig. Plötzlich pochte sein Herz schneller, in seinen Ohren rauschte das Blut.
„Jetzt hältst du mich für eine senile alte Vettel“, seufzte Harriet. „Das sehe ich dir an.“
„Keineswegs“, erwiderte er. Zum Glück klang seine Stimme fast normal. „Schon immer habe ich deinen Scharfsinn bewundert. Und du weißt irgendwas über Alexandrow, nicht wahr?“
„Nun ja – seine Behauptung, er würde nicht englisch sprechen, war eine Lüge.“
„Bist du sicher?“
„Urteile doch selbst, Dominic. Auf deiner Dinnerparty hörte er ein Gespräch zwischen Jack und dir, und später wies er darauf hin. Nur beiläufig. Aber er hatte alles verstanden. Obwohl ihr englisch gesprochen habt.“
Langsam nickte er, und seine Herzschläge beruhigten sich allmählich. Ja, das passte zu den anderen Anhaltspunkten – Alexandrow war Alexandra.
„Noch etwas“, fuhr Harriet fort, „ich glaube, seine Mutter war Schottin. Er erwähnte nämlich ihre kastanienroten Haare und ihre blauen Augen.
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