Eine Frau mit Geheimnis
englischen Sprachkenntnisse gesammelt hatte. Ein paar Klatschgeschichten über den Prinzregenten und die Beziehung zu seiner Tochter. Vielleicht war es nützlich, da sich der Zar für Princess Charlottes potenzielle Ehekandidaten interessierte. Aber vermutlich hatte er in seinen intimen Gesprächen mit Lady Jersey viel mehr herausgefunden.
Bei dieser Erinnerung runzelte Alex die Stirn. Der Zar war kein guter Ehemann. So sehr sie ihn auch verehrte – er war ein Schürzenjäger. Darüber konnte sie nicht hinwegsehen. Er hegte eine tiefe Abneigung gegen seine Gemahlin, trotz ihrer Schönheit und ihres sanften Wesens. Wie ganz Russland wusste, hatte seine Geliebte ihm mehrere Kinder geboren. Für die Zarin musste das eine schreckliche Erniedrigung sein, und Alex bedauerte sie zutiefst.
Warum schweiften ihre Gedanken plötzlich in solche Bahnen? Niemals in ihrem Leben hatte sie das „Väterchen“ kritisiert.
Was hatte Dominic über den Dampf gesagt, der hin und wieder aus einem brodelnden Kessel entweichen sollte? So wie Meg, ihre schottische Kinderfrau, billigte er den Spott, den die englische Presse mit dem Prinzregenten, seinen Mätressen und seinen Extravaganzen trieb. Früher hatten die Engländer einem ihrer Könige den Kopf abgeschlagen. Und jetzt machten sie sich über den Monarchen lustig. Gehörte das zum sogenannten Fortschritt? Da war sie sich nicht sicher. Aber eins wusste sie – der Besuch in England hatte sie verändert. Jetzt war sie nicht mehr bereit, fraglos alles zu akzeptieren, was zum russischen System gehörte. Sie hielt den Zaren keineswegs für vollkommen. Er war ihr Monarch, sie schuldete ihm treue Dienste und – wenn es sein musste – sogar ihr Leben. Doch nun sah sie auch seine Fehler.
Verglichen mit Dominic Aikenhead, dem Duke of Calder, hatte Zar Alexander sehr viele Fehler.
Abrupt stellte sie den Becher ab und erschrak über ihre Gedanken. Hatte Dominic sie verhext? Auch er war keineswegs perfekt – und er sah nicht einmal so gut aus wie der Zar, denn seine Züge waren viel zu ernsthaft, zu streng. Wenn er lachte, wirkte er viel attraktiver. Oder wenn er eine Frau küssen wollte. Dann erschien ein zärtlicher Glanz in seinen blauen Augen. Und als sein Mund ihren gesucht hatte, war er der wunderbarste Mann auf Erden gewesen …
Seufzend schüttelte sie den Kopf und nippte wieder an dem inzwischen lauwarmen Arzneitrank. Für alle Zeiten würde der Geschmack von Ingwer sie an Dominic erinnern. Und sein Bild würde alle anderen Männer überstrahlen, sogar den Zaren. Zudem würde seine großzügige Denkweise ihre Anschauungen beeinflussen. Früher war sie in vielen Dingen engstirnig gewesen, voller Vorurteile. Von jetzt an …
O ja, ein völlig veränderter Alexej Iwanowitsch Alexandrow würde aus England in die russische Heimat zurückkehren.
15. KAPITEL
Obwohl Dominic todmüde war, fuhr er sofort nach seiner Ankunft in London zum Außenministerium. Trotz der späten Stunde wartete Castlereagh auf ihn.
Schweigend hörte er sich den Bericht an, bis Dominic einen wenig schmeichelhaften Kommentar über die Schwester des Zaren und ihre Machenschaften abgab. „Der Prinzregent war sehr dankbar für Ihre Informationen über seine Tochter und Ihre Besucher, Calder. Ohne Ihre Hilfe wüssten wir nichts von den Intrigen der Großherzogin. Nun konnten wir entsprechende Maßnahmen ergreifen.“
Damit hatte Dominic gerechnet. Er stand auf, um sich zu verabschieden.
„Noch etwas“, fügte Castlereagh hinzu. „Der Premierminister möchte Ihnen einige Fragen stellen. Hoffentlich bleiben Sie vorerst in London.“
Dominic freute sich nicht sonderlich über dieses Ansinnen. Was er brauchte, war ein Erholungsurlaub in Aikenhead. Und was er wollte? Eine Gelegenheit, Erkundigungen über die mysteriöse Alexandra einzuziehen, die er auf dem Maskenball so leidenschaftlich begehrt hatte … Sollte er in Schottland nach ihr suchen? Vielleicht wäre das am besten. Dafür würde er auf geruhsame Tage in Aikenhead verzichten. Doch seine Wünsche spielten keine Rolle, denn er musste seine Pflicht tun und den Auftrag des Außenministers erledigen.
„Gewiss, Sir. Während der nächsten Woche erreichen Sie mich in meinem Londoner Haus.“
Dominic erwachte in der Dunkelheit. Wo war er? Einige Sekunden lang blinzelte er verwirrt, dann erinnerte er sich.
Die Arme hinter dem Kopf verschränkt, starrte er in die Finsternis. Er lag in seinem Bett, in London. Vermutlich hatte er viele Stunden lang
Weitere Kostenlose Bücher