Eine Frau mit Geheimnis
allen Ernstes beginnen. Keine einzige Minute würde ihm für sich selber bleiben – während langer Wochen voller Bälle und Bankette, Ansprachen und des endlosen Zeremoniells, das zum Besuch eines Monarchen gehörte und für unerlässlich gehalten wurde.
Wenn es ihn auch ermüden würde, er musste die ganze Zeit hellwach bleiben, falls er einem betrunkenen Beamten geheime Informationen entlocken oder eine interessante Konversation belauschen konnte. Viel lieber würde er nach Aikenhead Park fahren, obwohl seine Mutter ihn ständig drängte, wieder zu heiraten. Sie vergötterte ihren Erstgeborenen, und sie sorgte sich um ihn – mit gutem Grund, wie er zugeben musste. Eine gescheiterte Ehe, eine längst verstorbene Gemahlin, die ihm keinen Erben geschenkt hatte … Natürlich war das kein angemessenes Schicksal für einen Duke. Aber trotz der unentwegten Anspielungen seiner Mutter fand er auf dem Familiensitz stets die friedliche Ruhe, die er benötigte, um Körper und Seele zu erfrischen.
Auf diese Atmosphäre sollte seine neue Duchess achten. Bei der ersten Heirat hatte er die falsche Wahl getroffen, verführt von Eugenias reizvoller Fassade, ihrer Schönheit und ihrem lebhaften Temperament. Als Gefährtin war sie kühl und abweisend gewesen, im Bett hatte sie die Fähigkeit besessen, die Glut ihres Ehemanns regelmäßig zu löschen. Einen solchen Fehler würde er nicht noch einmal begehen, sich nicht mehr von Äußerlichkeiten blenden lassen. Seine Frau musste sanfte Heiterkeit ausstrahlen und ihm ein erholsames Heim bieten …
Plötzlich stockte sein Atem. Vom Hafen drang eine weibliche Stimme herüber, in melodischem Französisch. Wie die Stimme der jungen Frau im brennenden Stall. War sie wirklich hier? Oder spielte ihm seine Fantasie einen Streich?
Sein Blick schweifte über die Menschenmenge am Kai. Sobald das Schiff vertäut war, eilte er die Laufplanke hinab. Nun musste er die Besitzerin dieser zauberhaften Stimme finden.
„Je vous félicite“, sagte sie. „Et je vous remercie, aussi.“
Jetzt stellte er fest, wo die Stimme erklang – zwischen einigen Fischern, die sich in der Nähe der Impregnable versammelt hatten. In ihrer Mitte stand ein Offizier, der eine russische Uniform trug und Dominic den Rücken zukehrte. Versteckte sich die junge Frau hinter den breiten Rücken der Franzosen?
Der Offizier wandte sich von den Fischern ab. „Au revoir“, verabschiedete er sich und ging auf das Schiff zu.
Bestürzt zuckte Dominic zusammen. Ehe er sich zurückhalten konnte, stieß er einen wilden Fluch hervor. Offenbar waren seine romantischen Träume von einer Stimme inspiriert worden, die einem Mann gehörte!
Ein hochgewachsener dunkelhaariger Gentleman in Zivilkleidung hatte das Schiff verlassen. Anscheinend machten die Meereswellen auch ihm zu schaffen, denn er sah ziemlich blass aus. Aber er erweckte den Eindruck einer bedeutsamen Persönlichkeit. Alex salutierte. „Capitaine Alexej Iwanowitsch Alexandrow“, stellte sie sich auf Französisch vor, zu Ihren Diensten, Monsieur.“
Zunächst wirkte er etwas verwirrt, dann nickte er ihr zu. „Calder, Verbindungsoffizier zwischen der Regierung Seiner Majestät und Ihrem Zaren“, erwiderte er in untadeligem Französisch. „Meine Aufgabe besteht darin, den Besuch der Kaiserlichen Majestät in England möglichst angenehm zu gestalten. Wenn ein Angehöriger seines Gefolges Hilfe braucht, soll er sich bitte an mich wenden.“
„Vielen Dank, Monsieur.“
„Würden Sie mich an Bord begleiten, Capitaine? Sicher möchten Sie die Unterkunft Ihres Zaren inspizieren.“
Sekundenlang zögerte Alex, bevor sie die schwankende Laufplanke betrat, die der Engländer erstaunlich sicheren Fußes hinaufging. Nur Mut, ermahnte sie sich und folgte ihm. Immerhin war sie für ihre Tapferkeit ausgezeichnet worden. Was konnte ihr ein bisschen Wasser schon anhaben?
Calder führte Alex in eine große, helle Kabine im Heck des Schiffs. Mit vergoldeten Möbeln, kostbaren Gemälden und allem erdenklichen Komfort ausgestattet, erfüllte der Raum gewiss sämtliche Wünsche eines ranghohen Reisenden.
Als Alex sich umdrehte und die Tür schließen wollte, ging ein plötzlicher Ruck durch das Schiff. Sie griff nach der Klinke und verfehlte ihr Ziel, taumelte und stieß gegen einen kleinen Tisch.
„Bald werden Sie sich an das schwankende Schiff gewöhnen, Capitaine“, meinte Calder. „Bis dahin sollten Sie Halt suchen, wenn Sie an Bord umhergehen, insbesondere, wenn Sie
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