Eine Frau mit Geheimnis
zumuten. Und keine würde den nötigen Mut besitzen. Außer vielleicht – dieses Mädchen?
Dominic schüttelte den Kopf und verdrängte diese Gedanken. Hier in Boulogne, wo er relativ harmlose Pflichten erfüllte, brauchte er die Aikenhead Honours nicht. Und er musste endlich aufhören, an diese junge Frau zu denken. Viel zu oft erschien ihr undeutliches Bild in seiner Fantasie. Er hatte zu tun. Nun musste er sich auf seine erste Begegnung mit dem Zaren vorbereiten. Dabei durfte es keine Pannen geben.
Mit langen Schritten kehrte er in den Lion d’Or zurück und sprang, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf. Die Enttäuschung durfte ihn nicht in seiner Konzentration stören. Immerhin war sie nur die Tochter eines Kaufmanns. Zu respektabel für eine Geliebte, für eine Ehefrau von zu niedrigem Stand. Bald würde er sie vergessen. Außerdem wusste er kaum, wie sie aussah. Und sie hatte sich geweigert, mit ihm zu sprechen. Aber ihre Stimme klang sanft und melodisch. Daran erinnerte er sich, denn sie hatte so liebevoll und beruhigend auf die verängstigten Pferde eingeredet. Ihm hatte sie nur einen kurzen Schrei gegönnt. „Non!“
Kein einziges Dankeswort. Nur ein Blick aus weit aufgerissenen Augen – und dann die Flucht.
Als wäre er der Teufel persönlich …
2. KAPITEL
Alex stand am Kai von Boulogne. Zum ersten Mal in ihrem Leben betrachtete sie das Meer. So oft hatte sie sich ausgemalt, wie es aussehen würde. Vielleicht wie eine größere Version der zahlreichen Seen, die sie kannte – oder wie die Steppe, nicht von Erde, sondern von Wasser bedeckt … Aber die starken Wellen hatte sie sich nicht vorgestellt. Ja, das Meer bewegte sich, und alle Schiffe im Hafen schaukelten.
Bei diesem Anblick drehte sich ihr Magen um. Und plötzlich stieg eine unheilvolle Ahnung in ihr auf. So sehr hatte sie sich gefreut, als sie aufgefordert worden war, den Zaren nach England zu begleiten. Doch sie spürte, sie würde diesen Teil der Reise kein bisschen genießen.
Um sich von dem Grauen der wild bewegten See abzulenken, dachte sie an die erstaunliche Begegnung im brennenden Stall. Bisher hatte sie nicht gewagt, sich an den Mann zu erinnern. Da er ihr das Leben gerettet hatte, sollte sie ihm dankbar sein. Aber dann hatte er sie mit Mademoiselle angesprochen, und ihr war nichts anderes übrig geblieben, als die Flucht zu ergreifen. Ohne ein Wort des Dankes. Er kannte ihr Geheimnis. Womöglich hätte er es unwissentlich verraten. Und so war sie davongelaufen.
Noch immer entsann sie sich, wie es gewesen war, seine nackte Brust auf ihrem Körper zu fühlen. Wie er mit ihr über den Boden gerollt war, um die Flammen ihres brennenden Nachthemds zu löschen … Welch ein starker Mann! Mühelos hatte er sie über seine Schulter geworfen. Hätte sie bloß gewagt, den Gastwirt nach dem Namen ihres Retters zu fragen … Dann könnte sie ihm einen Dankesbrief schicken, natürlich anonym. Vielleicht sollte sie sogar jetzt …
Nein, auf keinen Fall! Dieses Risiko durfte sie nicht eingehen, nur um einem rußgeschwärzten französischen Dienstboten zu danken. Sie wusste nicht einmal, wie er aussah. Wenn sie ihn suchte und fand, würde er sie wahrscheinlich verraten. Es wäre reiner Wahnsinn. Deshalb musste sie sich zwingen, den Mann zu vergessen.
Entschlossen konzentrierte sie sich auf ihre Mission. Sie durfte nur französisch sprechen. Und der Zar hatte ihr eingeschärft, niemandem zu erzählen, ihre schottische Mutter und das schottische Kindermädchen hätten ihr ein perfektes Englisch beigebracht. Ihre Aufgabe bestand darin, Gespräche zu belauschen und zu berichten, was sie hören würde, so unwichtig es ihr auch vorkommen mochte. Mit anderen Worten, sie sollte für den Zaren spionieren. Und Mütterchen Russland dienen.
Nun näherte sich ein Schiff der englischen Marine dem Kai und legte an. Trotz der Vertäuung schwankte es heftig. Als Alex das beobachtete, wurde ihr fast übel. Um ihren rebellischen Körper zu zügeln und das Bild ihres Retters nicht erneut heraufbeschwören zu müssen, wandte sie sich hastig ab und sprach mit einigen Fischern.
Hoffentlich würde sie ihre Schwäche unter Kontrolle haben, wenn sie an Bord ging.
An die Reling gelehnt, verfolgte Dominic die Ankunft des Kriegsschiffes im Hafen von Boulogne. Gewissenhaft hatte er dafür gesorgt, dass die Impregnable für die Ankunft des Zaren vorbereitet war. Sobald er wieder einen Fuß auf französischen Boden setzte, würde seine Mission
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