Eine Frau mit Geheimnis
die Niedergänge benutzen.“
„Die Niedergänge?“
„Die Treppen zwischen den Decks. Bei der Marine bedient man sich einer speziellen Sprache.“
„Verzeihen Sie mir die Bemerkung, aber es überrascht mich, einem Engländer zu begegnen, der nicht nur ausgezeichnet Französisch spricht, sondern auch noch den Marine-Jargon versteht.“
„Meine Mutter ist Französin“, betonte er hastig.
„Nun, das erklärt einiges. Aber es wäre erstaunlich, wenn sie in der Marine gedient hätte.“
Beinahe lächelte er. „Touché, Capitaine. Selbstverständlich tat sie das nicht. Aber ich fuhr oft zur See. Wir Briten lieben das Meer, es liegt uns im Blut. Vermutlich fühlen Sie sich der riesigen Steppe auf ähnliche Weise verbunden.“
Welch ein einfühlsamer Mann, diese Mr. Calder, dachte sie. „Waren Sie schon einmal in Russland, Monsieur?“
Für einen kurzen Moment wirkte er verwirrt. „Nein … Als Offizier wissen Sie zweifellos, dass solche Reisen für Zivilisten in den letzten fünfzehn Jahren etwas … eh … schwierig waren. Aber seit Bonaparte auf Elba festsitzt, dürfen die Engländer wieder ihrer Reiselust frönen. Nach Paris fahren wir besonders gern. Vielleicht werde ich irgendwann auch Russland besuchen. Sicher würde sich das lohnen.“
„Ganz bestimmt, Monsieur. Russland ist ein so großes Land, dass es alles zu bieten hat.“
„Aber es wird nicht vom Meer umgeben.“
Eine neue Woge erschütterte das Schiff, und Alex hatte das Gefühl, ihr Magen würde in der Luft hängen, während ihr restlicher Körper zu Boden sank.
„Vielleicht darf ich Ihnen vorschlagen, Platz zu nehmen, Capitaine?“, fragte Calder. „Dann wird es Ihnen nicht so schwerfallen, Ihr Gleichgewicht zu bewahren.“
Sein Rat klang fast väterlich, dachte Alex verwundert. Warum sollte sich ein Engländer mit strenger Miene um einen jungen russischen Offizier sorgen, der halb so alt aussah wie er selber? Das verstand sie nicht, aber sie setzte sich.
„Wie Ihnen zumute ist, weiß ich, Capitaine“, fuhr er fort. „Mein jüngerer Bruder wird schon grün im Gesicht, wenn er ein Schiff nur sieht.“
„Ach, tatsächlich …“, murmelte sie mechanisch und fühlte sich immer unbehaglicher.
„Falls Ihre Übelkeit während der Reise nicht nachlässt, werde ich den Schiffskoch ersuchen, ein Spezialgetränk zuzubereiten, das die Symptome garantiert lindert.“
„Danke, Monsieur, Sie sind sehr freundlich.“
„Kommen wir zur Sache …“ In knappen Worten erläuterte er, was man unternommen hatte, um den Komfort des Zaren zu gewährleisten. Alex nickte. Daran gab es nichts auszusetzen. Offenbar hatten Calder und seine Mitarbeiter von der Royal Navy an alles gedacht. „Auf Zar Alexanders Reise nach England wird Seine Königliche Hoheit, der Duke of Clarence, der Bruder des Prinzregenten, als Gastgeber fungieren. Vielleicht sollte ich Sie warnen, Capitaine. Er drückt sich manchmal etwas derb aus. Hoffentlich nimmt der Zar keinen Anstoß daran.“
Alex lächelte. Beim russischen Militär hatte sie genug unflätige Äußerungen gehört. „Seine Kaiserliche Hoheit verfügt über ausgezeichnete Manieren. Sicher wird er nichts tun oder sagen, was seinen Gastgeber in Verlegenheit bringen könnte.“
„Großartig, besten Dank.“
„Wann wird das Gefolge des Zaren an Bord erwartet?“
„Ein oder zwei Stunden vor dem Gezeitenwechsel. Der Kapitän der Impregnable wird uns bald informieren. Wird der Zar von sehr vielen Leuten begleitet?“
„Nein, auf dieser Reise nicht, denn er wollte seinem Gastgeber keine Unannehmlichkeiten bereiten.“ Alex zählte die Namen der betreffenden Personen auf.
Ohne eine Miene zu verziehen, hörte Calder zu – ein Mann, der sich seine Gedanken nicht anmerken lässt, konstatierte Alex.
„Im St. James’s Palace wurde eine opulente Suite für den Zaren hergerichtet“, erklärte er. „Dort wird er sich sicher wohlfühlen.“
„O Gott!“, platzte sie heraus.
Erstaunt hob Calder die Brauen. „Stimmt etwas nicht?“
„Wahrscheinlich wissen Sie, dass sich die Schwester Seiner Kaiserlichen Majestät, die Großherzogin Katharina von Oldenburg, schon in London aufhält – ein privater Besuch …“
„Ja, das ist mir bekannt.“
„Da der Zar seinen königlichen Gastgeber nicht inkommodieren möchte und seine Schwester sehr liebt, will er bei ihr wohnen – im Pulteney Hotel. Dagegen gibt es doch nichts einzuwenden?“ Natürlich war das nur eine rhetorische Frage, denn Zar Alexanders
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